Das Erbe der Abwesenheit

»Das andere Mädchen« von Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux ist ein Brief an ihre ungekannte Schwester

Das Geschwister ist einem selbst ungleiches Spiegelbild: Meisterhaft beleuchtet Annie Ernaux das eigene Gefühlsleben.
Das Geschwister ist einem selbst ungleiches Spiegelbild: Meisterhaft beleuchtet Annie Ernaux das eigene Gefühlsleben.

Seit fünf Jahren nimmt sich der Suhrkamp-Verlag in besonderer Weise des Werks von Annie Ernaux an. Er bringt Texte der hierzulande spät entdeckten französischen Autorin erstmals oder aber in neuer Übersetzung (allesamt von Sonja Finck) heraus. Anfang des nächsten Jahres wird ihre Erzählung »Der junge Mann« über das Verhältnis der Autorin, zu dem Zeitpunkt bereits über 50, zu einem 30 Jahre jüngeren Mann erscheinen. Ihr deutscher Verlag spricht davon, dass Ernaux damit ihr letztes Tabu breche.

Als Anfang des Monats bekannt wurde, dass der Schriftstellerin der Literaturnobelpreis verliehen werden soll, erschien pünktlich ein anderes schmales Buch der Autorin: »Das andere Mädchen«. Es ist, wie gewohnt, eine schonungslose Auseinandersetzung der Schriftstellerin mit sich selbst, mit der eigenen Biografie. Die knapp 80 Seiten fassen einen Brief an die Schwester der Urheberin jener Zeilen.

In Worten finden hier aufwühlende Ereignisse ihren Ausdruck, die so solitär nicht sind, uns aber in ihrer präzisen, ungefilterten Beschreibung bewegen. 1940 wird die Schriftstellerin im Norden Frankreichs geboren; zu diesem Zeitpunkt ist ihre Schwester, sechsjährig gestorben, bereits seit fast drei Jahren beerdigt. Sie weiß nichts von dem Unglück der Familie, es wird nicht über den Verlust gesprochen – ein Umstand, der sich nie ändern wird. Erst 1950, Ernaux ist noch keine zehn Jahre alt, erfährt sie zufällig von dem Entsetzlichen. Die Mutter, die mit dem Vater ein Geschäft führt, tritt vor den Laden, um mit einer Kundin zu sprechen, und erzählt ihr von dem verstorbenen Kind. Die Autorin spielt auf der Straße, kann das Gespräch mit anhören und sieht sich so zum ersten Mal mit diesem Teil der Familiengeschichte konfrontiert.

Wieso dieser Moment der Offenbarung? Hatten die Eltern nicht die Entscheidung getroffen, dem Kind vorzuenthalten, was vor seiner Geburt ihr Leben bewegt hatte? Einige Seiten weiter beschreibt Ernaux: »In den Fünfzigerjahren hielten die Erwachsenen Kinderohren für vernachlässigbar, sie glaubten, in der Gegenwart von Kindern könne man folgenlos über alles sprechen, außer über Sexualität, worauf man nur anspielte.«

Dieser biografische Kippmoment ist facettenreich, und Ernaux nähert sich ihm tastend immer wieder an. In der verheißungsvollen Konversation der Mutter sagt diese der Fremden: »sie war viel lieber als die da«. Ernaux weiß: »Die da, das bin ich.« Lesend werden wir Zeugen eines Satzes, der die, die er bezeichnet, in ihrem Leben bestimmen soll. Von der Mutter erfährt hier ein Kind, dass es nicht lieb, nicht lieb genug ist. Das korrespondiert mit den Zuschreibungen, die von den Eltern außerdem ausgehen werden. Die Tochter sei »aufsässig, schlampig, gefräßig, eine Besserwisserin, eine Nervensäge, du hast den Teufel im Leib«. Nicht lieb, so wird auch die gelebte kindliche Sexualität vom Priester betrachtet. Vielleicht ist von hieran die Schlechtigkeit, die die Autorin in ihrer Selbstbetrachtung vernimmt, vorherbestimmt, vielleicht ist sie erlaubt.

Warum stirbt ein Kind, sechs Jahre alt? Der Tod ist Folge einer schweren Erkrankung. »Es gab keine Vorherbestimmung. Nur eine Diphtherie-Epidemie, und du warst nicht geimpft. Laut Wikipedia war die Impfung ab dem 25. November 1938 Pflicht. Du starbst sieben Monate vorher«, schreibt Ernaux.

Sie selbst leidet im Alter von fünf Jahren, infolge einer Verletzung durch einen rostigen Nagel, an Wundstarrkrampf. »Im Larousse-Lexikon von 1949 lese ich: ›Ist Tetanus erst einmal ausgebrochen, verläuft die Krankheit häufig tödlich. Es sind jedoch Fälle bekannt, bei denen die wiederholte Gabe eines Tetanus-Serums in hoher Dosierung zur Heilung geführt hat.‹ Die Existenz eines Impfstoffes bleibt unerwähnt. Aus dem Internet erfahre ich, die Impfung sei zwar ab 1940 für alle Kinder verpflichtend gewesen, der Impfstoff sei ›aber erst nach 1945 tatsächlich verfügbar‹ gewesen.« Das Leben und Überleben, nichts als das Produkt medizingeschichtlicher Entwicklungen, nichts als Zufall.

Der Tod des ungekannten Geschwisterkindes prägt das Leben der Briefeschreiberin. Was sind das für Erfahrungen, bereits zu dem Zeitpunkt, da man vom Tod der Schwester erfährt, älter geworden zu sein, als sie werden konnte? Was heißt es, kein Wort je gesprochen zu haben mit derjenigen, mit der man Elternhaus und Herkunft teilt? Geschwister sind uns oft ungleiches Spiegelbild, mitunter Gegenstand unliebsamer Vergleiche, gemäß Alter und Schatz sozialer Erfahrungen näher als andere Verwandte.

Ernaux schönt und verklärt nichts. Idealisierung ist ihr fremd, ihr Thema ist höchstens der Kampf mit der Idealisierung. Die Worte »bei ihrem Tod sah sie aus wie eine kleine Heilige« habe sie der Mutter abgelauscht bei dem einschneidenden Gespräch, als sie zehn Jahre alt war. Der Einfluss auf ihr Leben ist enorm, und doch ist da kaum mehr als Distanz als vordringliches Gefühl. »Du existierst nur noch durch deinen Abdruck auf mein Leben. Über dich zu schreiben, ist nichts als eine Erforschung deiner Abwesenheit. Eine Beschreibung des Erbes der Abwesenheit«, schreibt sie.

Schriftsteller mit internationalem Erfolg, vielleicht sogar geehrt mit einem Nobelpreis, müssen sich nicht beklagen über einen Mangel an Aufmerksamkeit. Gemäß einer fatalen medienbetrieblichen Logik, die sich zu verstärken und damit zu verschlimmern droht, sprechen wir häufig über die Autoren samt ihren Skandalen, hinter denen das Werk dann verschwindet. Nachdem die Nachricht von Ehrung mit Literaturnobelpreis um die Welt gegangen war, konnten wir von allerhand Dingen lesen, die ganz neu nicht sind. Annie Ernaux habe die Gelbwestenbewegung unterstützt, die dem einen oder anderen Feuilletonisten verdächtig ist. Die Schriftstellerin habe sich mehrfach für den Präsidentschaftskandidaten Jean-Luc Mélenchon ausgesprochen, der hierzulande als Linkspopulist mit Neigung zu reaktionären Haltungen gilt. Schließlich habe sie offene Briefe von und aus dem Umfeld der israelkritischen BDS-Bewegung unterzeichnet – fürwahr ein Anlass zur Kritik.

Ernaux hat aus ihrer politischen Haltung nie einen Hehl gemacht. Mehr noch: In ihrer minutiösen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte wird sie begreifbar. Wir müssen nicht schweigen von der politischen Person Annie Ernaux. Der Nobelpreis wie das literarische Werk bleiben davon unangetastet. Aber es wäre bedauerlich, wenn dahinter diese zutiefst aufklärerische Prosa zu kurz käme. »Das andere Mädchen« ist ein erstaunlich kluges Buch.

Annie Ernaux: Das andere Mädchen. A. d. Franz. v. Sonja Finck. Suhrkamp, 76 S., geb., 18 €.

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