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Was ist Autoritarismus?
Die Demokratie ist in der Krise und wird von rechten Kräften angegriffen. Für die Regression wird jetzt der Begriff des Autoritarismus wiederentdeckt
Wenn es in der Gegenwart an etwas nicht mangelt, dann an Gesellschafts- und Krisendiagnosen. Seit Jahren liefert die Sozialwissenschaft verlässlich Analysen zur »großen Regression«, einer »Postdemokratie« und den Verfallserscheinungen liberaler Gesellschaften, dem Erstarken des Rechtspopulismus und einer »aus den Fugen geratenen Welt«. So zahlreich diese Beobachtungen und Beschreibungen auch sind, sie verbindet eine merkwürdige Ahnungslosigkeit: Auf dem Schirm haben wir scheinbar alles, aber erklären lässt es sich kaum. Rechtsruck, kultureller backlash und irrationale Verschwörungsmythen sind offensichtlich, unklar ist hingegen, worin eigentlich der Zusammenhang zwischen diesen Phänomenen besteht. Daher wird meist tautologisch erklärt: Weil in Krisensituationen die Ungewissheit wachse, sehnten sich die Menschen nach Sicherheit; weil man die Welt nicht mehr verstehe, wolle man einfache Antworten; weil die Leute Ohnmacht spürten, suchten sie nach Stärke und Souveränität.
Das hat den Charme der Selbstevidenz, aber zur Aufklärung trägt es wenig bei. Eine der unzureichenden Analysen gesellschaftlicher Regression stellte lange Zeit die Populismusdiagnose dar. Populismus sollte die zahlreichen politischen Bewegungen fassen, die im Namen eines »wahren Volkes« gegen liberale Eliten und repräsentative Demokratie erfolgreich Stimmung machten. Genau genommen war das ein Versuch, Angriffe auf die Demokratie demokratisch einzuhegen – und zwar von beiden Seiten: liberale Demokrat*innen wollten sich gern über den Charakter rechter Mobilisierung täuschen und den Rechten selbst passte der demokratische Anstrich nur zu gut. Unzählige empirische Studien und Bestandsaufnahmen konnten an der Konfusion daher nichts ändern. Nahezu jeder wissenschaftliche Beitrag über Populismus beginnt mit der Feststellung, dass es sich um eine schwammige Diagnose und einen überdehnten Begriff handele.
Die Realität hat die Unentschiedenheit des Populismusbegriffs überholt. Spätestens seit den Wahlerfolgen offen faschistischer Parteien stehen die Zeichen sehr deutlich auf antidemokratischer Politik. Da braucht es eine Diagnose, die zumindest diese Eindeutigkeit einfängt. Autoritarismus wird daher als der Begriff der Stunde wiederentdeckt und soll die illiberalen, demokratiefeindlichen, gewalt- und herrschaftsaffirmierenden Entwicklungen besser fassen. Aber was meint die Diagnose eigentlich und handelt es sich dabei um einen ähnlich undeutlichen Begriff wie etwa Populismus? Zwei jüngst erschienene Bücher bieten zur Klärung einen guten Anhaltspunkt: Der Sammelband »Treiber des Autoritären« unter Herausgeberschaft von Günter Frankenberg und Wilhelm Heitmeyer sowie das viel gelobte Sachbuch »Gekränkte Freiheit« von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey, das »Aspekte des libertären Autoritarismus« untersucht.
Autoritäre Charaktere und Strukturen
Tatsächlich steckt im Begriff des Autoritarismus enormer gesellschaftstheoretischer Gehalt – er hätte das Potenzial, die Gesellschaft als Ganze zu begreifen, aus der heraus die Phänomene der Regression entstehen, anstatt alles nur zu beschreiben. Dieses Potenzial jedenfalls hatte der Begriff in den Analysen der frühen Kritischen Theorie der 1930er und 1940er Jahre. Die Diagnose Autoritarismus kommt auch heute kaum ohne den Verweis auf die »Studien zum Autoritären Charakter« aus, die Theodor W. Adorno zusammen mit verschiedenen Wissenschaftler*innen während der 1940er Jahre in Kalifornien anfertigte. So berühmt der autoritäre Charakter als Schlagwort ist, so vehement sind die Missverständnisse, die sich damit verbinden.
Denn autoritärer Charakter meint nicht nur, wie weithin suggeriert wird, die Diagnose eines spezifischen Menschenschlags, der besonders zu faschistischer Ideologie neigen würde, unterwürfig oder strafbesessen sei. Freilich gibt es diese Ausprägungen und die Studien versuchen, solche Charakterbeschaffenheit fassbar und erklärbar zu machen. Aber bereits in den einleitenden Bemerkungen heißt es von Adorno, die Untersuchung ziele auf die Charakterstruktur von Individuen, also die Gesamtheit ihrer Überzeugungen, die »häufig ein umfassendes und kohärentes, gleichsam durch eine ›Mentalität‹ oder einen ›Geist‹ zusammengehaltenes Denkmuster bilden«. Das Muster dieser Charakterstruktur sei nicht einfach individuelle Disposition, wie etwa ein psychologisches Syndrom, sondern »kann niemals vom gesellschaftlichen Ganzen isoliert werden«.
Jenes Muster lässt sich Adorno zufolge nicht nur in den Einstellungen der Leute finden, sondern auch in den Produkten der Kulturindustrie sowie der faschistischen Propaganda. Leo Löwenthals damalige Studie zur faschistischen Agitation ermöglichte es etwa, wie Adorno schrieb, »die mechanische Starrheit des Gesamtschemas« zu erkennen. Trotz der vielfältigen und auch widersprüchlichen Erscheinungen der Propaganda bilde diese eine Einheit. Adorno resümierte dazu: »Die libidinöse Struktur des Faschismus und die gesamte Technik faschistischer Demagogen ist autoritär.« Was bedeutet es aber, dass sich die Struktur des Faschismus und der Individuen auf diese Weise annähern?
Es ist nicht nur eine Verbindung, so wie eben »alles mit allem« irgendwie zusammenhängt. Vielmehr zeigt sich daran der ganz bestimmte Zusammenhang zwischen autoritärer Charakterstruktur und jener Gesellschaft, die sich zur totalen Herrschaft entwickelte. Autoritär benennt die Tendenz einer gesamtgesellschaftlichen Bewegung. Und das ist bemerkenswert, denn Autoritarismus wird der Realität nicht einfach als abstrakter Begriff übergestülpt. Die konkrete Erkenntnis, dass sich die Charaktere autoritär formieren, ließ erst den Schluss zu, dass die Gesellschaft der Tendenz nach eine bestimmte Einheit bildete. Der Gesellschaftsbegriff wird konkret, am Individuum, entwickelt und beweist damit erst die Möglichkeit, die Gesellschaft in der Weise auf den Begriff zu bringen. Besser gesagt: Dass wir einen autoritären Charakter bei Individuen finden, zeigt, dass wir es mit einer Gesellschaft zu tun haben, für die abstrakte Herrschaft zum Prinzip ihrer Einheit geworden ist.
Es ist wichtig, auf den gesellschaftstheoretischen Gehalt des Autoritarismusbegriffs hinzuweisen. Denn dieser wäre in der Tat ein enormer Qualitätssprung für eine Sozialwissenschaft, der es längst zum Dogma geworden ist, dass es »die« Gesellschaft gar nicht gibt. Man könne nur im Plural oder in Prozessbegriffen von diesem »unmöglichen Objekt«, wie Oliver Marchart es nannte, reden. Das erklärt einigermaßen, warum der Begriff sich derzeit solcher Beliebtheit erfreut: Er hat den Nimbus des gesellschaftlichen Großbegriffs, der angesichts des immer offensichtlicheren Zusammenhangs der »Vielfachkrise« dringend notwendig erscheint. Aber werden die aktuellen Diagnosen zum Autoritarismus diesem Anspruch gerecht?
Krisen als »Treiber des Autoritären«
Der jüngst erschienene Sammelband »Treiber des Autoritären« bringt eine ganze Reihe prominenter Stimmen zu der Krisendiagnose zusammen, dass sich die internationale Ordnung immer mehr von liberaler und demokratischer Ausrichtung verabschiede. Autoritarismus ist hier zunächst also Gegenbegriff und entsprechend widmen sich die Herausgeber Frankenberg und Heitmeyer seiner Abgrenzung zu Populismus und Illiberalismus, aber auch etwa zum »Amok laufenden Bruder, dem Totalitarismus«. Vor Augen haben die beiden anscheinend ein Kontinuum von Staatsformen, in dem sich Autoritarismus jenseits der Demokratie, aber noch nicht ganz im Faschismus befinde.
Die Herausgeber betonen, dass man die »notwendigen Analysen nicht durch abstrakte und vage Begriffe wie ›Strukturverschiebungen‹ etc. verschwimmen lassen dürfe«. Ihre Befunde, dass Krisen zu größerer Unsicherheit und eben gesellschaftlichen Verhärtungen führten, die sich in »Phänomenen des Autoritären« niederschlugen, bleiben aber verhältnismäßig abstrakt. Krisen wie sie durch Terrorismus, Politikversagen oder Corona-Pandemie hervorgerufen würden, verunsicherten die Menschen und desintegrierten Gesellschaften, sodass sich Einstellungen wandelten und zu »Machtmaterial für autoritäre Bewegungen und Parteien« würden. Autoritäre Entwicklungen seien daher durch Krisen angetrieben, von Akteuren gezielt ausgebeutet und, so das argumentative Grundmuster der Autoren, gegen Pluralismus, Toleranz und demokratische Kultur gerichtet.
Das mag auf der Beschreibungsebene zutreffen. Warum diese Zusammenhänge bestehen, scheint aber niemanden wirklich zu interessieren. Der Politikwissenschaftler Michael Zürn versucht zwar, den Diagnosen eine Theorie der Autokratisierung zur Seite zu stellen, die auch deren Eigendynamik besser verstehen will. Aber seine Bemühungen laufen nur auf eine genauere Typologisierung hinaus, etwa dass unter Bedingungen des Globalisierungsdrucks vor allem die Formen technokratischer und populistischer Autoritarismen vorzufinden seien.
Theorie meint daher, wie im Band insgesamt, eher die Einordnung von Tatsachen als die Erklärung der Phänomene. Lars Rensmann drängt auf Letzteres, wenn er in einer vergleichenden Perspektive auf die globale Autokratisierung für eine Begriffserweiterung plädiert: Autoritarismus und repressiver Konformismus seien »nicht nur als Systemfunktionen, sondern auch als gesamtgesellschaftliche Phänomene zu begreifen«. Er will Demokratie als eine Gesellschaftsform verstehen, die als Ganze von autoritären Kräften angegriffen wird. Bedingungen wie Demokratieentleerung durch Neoliberalismus machten das möglich. Rensmann wünscht sich zwar eine interdisziplinäre Perspektive aus etwa Sozialforschung, Kommunikationswissenschaft und politischer Ökonomie, den gesellschaftstheoretischen Zusammenhang liefert das aber nicht automatisch.
Ohne Gesellschaftstheorie kann einem das Auf und Ab von demokratischem Fortschritt und autoritärer Regression schnell wie ein Naturgesetz erscheinen. Der Rechtstheoretiker Klaus Günther spricht etwa davon, dass die Dichotomisierung zwischen dem wahren Volk und der künstlich pluralistischen Konstruktion eines demokratischen Kollektivsubjekts zur Moderne dazugehöre und sich bis zur französischen Revolution zurückverfolgen lasse. Seitdem erlebten wir immer wieder Konjunkturen der Politisierung dieses Gegensatzes, je nachdem wie drastisch die Krisenerfahrungen von Unsicherheit und Ungewissheit eben ausfielen.
Gegen die Gefahr falscher Verallgemeinerungen hilft es auch nur bedingt, immer neue Begriffe und innovative Konzepte vorzulegen. »Für zukünftige differenzierte Krisenentwicklungen« sei es den Herausgebern zufolge notwendig, »auch differenzierte Konzeptionierungen des Autoritarismus bereitzustellen«. Natascha Strobl spricht daher von radikalisiertem Konservatismus, Heitmeyer sieht die Spätmoderne unter Krisendruck »entsicherten Unübersichtlichkeiten« ausgesetzt, Klaus Dörre nennt die Konstellation einen »exterministischen Autoritarismus« als Ergebnis verdrängter Klassenkonflikte. Allesamt sind das Konzepte, die eher der Innovationslogik der universitären Ökonomie folgen, als die Gesellschaft wirklich zu begreifen.
Haben wir es denn momentan mit einem neuen Phänomen der Regression zu tun? Ist es eine neue Qualität beziehungsweise Zuspitzung alter gesellschaftlicher Konflikte? Oder ist es einfach das ganz normale Krisengeschäft kapitalistischer Vergesellschaftung? Während die meisten Beiträge diese Fragen zwar umkreisen, aber nicht tiefer verfolgen, liefert der Essay des Sozialpsychologen Oliver Decker eine bemerkenswerte Antwort. Denn ob die Analysen der Kritischen Theorie zum Autoritarismus noch aktuell seien, lasse sich nicht damit entscheiden, dass sich ja die Gesellschaft offensichtlich verändert habe: mehr Freiheiten, weniger patriarchale Unterordnung, mehr Individualismus und so weiter. Die immer wiederkehrenden Befunde zum Fortbestand autoritärer Charaktere, wie Decker sie unter anderem in seiner Mitte-Studie regelmäßig erbringt, lassen auf die Kontinuität jener Gesellschaft schließen, deren Struktur autoritär ist. Das kommt dem Potenzial des Autoritarismusbegriffs wohl am Nähesten: Gesellschaft nicht einfach abstrakt zu bestimmen, sondern als Zusammenhang der konkreten Momente zu zeigen, sprich am Individuum.
»Gekränkte Freiheit« lässt aufbegehren
Es ist vor diesem Hintergrund richtig, dass sich Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey in ihrer Untersuchung der Sozialfigur des regressiven Rebellen widmen, die sie als Erscheinungsform eines libertären Autoritarismus deuten. Lässt sich von dieser »Metamorphose« des autoritären Charakters auf die zugrunde liegende gesellschaftliche Tendenz schließen? Die Autor*innen wollen mit ihrer Forschung an die Analysen der Kritischen Theorie anschließen und »diese mit der neuen gesellschaftlichen Situation abgleichen«. Sie suchen entsprechend »die Ursachen in der historischen Entwicklung kapitalistischer Gesellschaften« und verstehen Autoritarismus als »Nebenfolge spätmoderner Gesellschaften«.
Der libertäre Autoritarismus, den die Autor*innen in mehreren Studien und Interviews mit Querdenker*innen und regressiven Rebell*innen ausfindig machen, ist ein widersprüchliches Phänomen. Denn er ist ein Aufbegehren gegen die Demokratie (das mache ihn autoritär), aber im Namen des verdinglichten bürgerlichen Freiheitsideals individueller Autonomie (das mache ihn libertär). Besonders deutlich werde dabei der Unterschied zum klassischen autoritären Charakter, dass eine »ausgeprägte autoritäre Unterwürfigkeit nicht zu erkennen« sei. Mit dem Essay von Decker ließe sich das einfach so erklären, dass die Autorität nicht durch einzelne Führungspersonen dargestellt würde, sondern durch die Wirtschaftsstruktur selbst, sprich die abstrakte Herrschaft im Kapitalismus.
Amlinger und Nachtwey kommen dem nahe, wenn sie die Ursachen des Autoritarismus in den Widersprüchen der modernen Gesellschaft suchen. Im bürgerlichen Freiheitsverständnis liege bereits das Potenzial zur Regression und zwar weil die formale Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft zugleich immer auch einen Abhängigkeitskonflikt mit sich bringe. Der Grundwiderspruch, dass Individuen frei und zugleich abhängig von der Gesellschaft seien, ziehe sich durch die Geschichte und entfalte immer neue subjektive Blüten: vom klassischen autoritären Charakter der »organisierten Moderne« über die freiheitsliebenden Alternativmilieus nach 1968 und das unternehmerische Selbst bis in das Rebellentum von Querdenken.
Den gegenwärtigen autoritären Charakteren liege eine Subjektivierung zugrunde, in der gesellschaftliche Zwänge gänzlich internalisiert seien: Individuen als Unternehmer*innnen ihrer selbst, ihres Glückes eigener Schmied und so weiter. Gesellschaftliche Widersprüche werden vor allem als Selbstwidersprüche wahgenommen und entsprechend über Selbstkontrolle »der Emotionen, des Körpers oder des Lebensverlaufs« geregelt. Vor diesem Hintergrund machen Amlinger und Nachtwey verständlich, warum auf die Einschränkung persönlicher Autonomie so empfindlich reagiert wird beziehungsweise diese so stark politisiert werden kann. Die Fantasie absoluter Kontrolle ist das einzige, was die Individuen einer kriselnden Realität entgegensetzen können, die sie als kulturellen, politischen und ökonomischen Souveränitätsverlust wahrnehmen. Die bedrohte Kulturidentität, Abstiegsängste und Politikverdrossenheit – all das komme in der Einschränkung persönlicher Freiheit zusammen.
Die gesellschaftliche Grundlage dieser Subjektivitäten ist bei Amlinger und Nachtwey – durchaus im Einklang mit der Kritischen Theorie – das Unbehagen, das durch die gesellschaftliche Ambivalenz erzeugt werde: die Erfahrung der Ohnmacht, die dem Ideal von Selbstwirksamkeit und Autonomie zuwiderläuft. Das Unbehagen komme unterschiedlich zum Tragen und erzeuge je nach historischer Konstellation so etwas wie »soziale Kränkungen«, die negative Gefühle nach sich zögen, die wiederum verarbeitet werden müssen und eben zu Regression, Abwehr oder Projektion tendieren. Die titelgebende »gekränkte Freiheit« sei der Widerspruch, der dem libertären Autoritarismus zugrunde liege.
Damit wird aber der Widerspruch selbst bei Amlinger und Nachtwey zur gesellschaftlichen Tendenz. Er liegt der Entwicklung der Gesellschaft und damit auch den Subjekten und ihrer (autoritären) Charakterstruktur zugrunde. Aber was ist dann die gesellschaftliche Grundlage dieses Widerspruchs? Die Autor*innen schließen diese Frage kurz, indem sie Moderne und Widerspruch in eins setzen. So landen sie bei der Zeitdiagnose einer regressiven Modernisierung als Erklärung, also der »widersprüchlichen Gleichzeitigkeit von Modernisierung und Gegenmodernisierung«. Genau genommen wird damit aber alles mit sich selbst erklärt: Moderne ist widersprüchlich und erzeugt deswegen Widersprüche. Diese Sichtweise geht notwendigerweise mit einer Enthistorisierung des Unbehagens einher, denn dieses wird einfach zum »dialektischen Charakter menschlicher Freiheit« erklärt, der sich mal schlecht (autoritär) oder gut (demokratisch?) auflösen lasse. Ein ewiger Kreis.
Der Tendenz nach ist das selbst Mythologisierung, die dem erklärten Anspruch einer »spätmodern erneuerten Aufklärung«, die »stärker selbstreflexiv sein« müsste, widerspricht. Das eigentliche Gütekriterium der Kritischen Theorie – die Deutung der Wirklichkeit – verfehlen sie damit. Denn die Feststellung von Widersprüchen ist nicht deren Aufklärung. Für die Autor*innen und zugeneigten Leser*innen hat das den entlastenden Vorteil, dass sie sich auf der »guten Seite« der Geschichte wähnen können. Offenbar sind sie den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen nicht so ausgeliefert, wie die bemitleidenswerten libertären Autoritären, die gar nicht anders können, als mit regressiver Abwehr auf die Zumutungen der Gesellschaft zu reagieren.
Wenn an diesen konkreten Individuen eine gesellschaftliche Tendenz gefunden werden soll, dann schließt das zwingend eine Selbstkritik ein: Wie verhält sich die eigene Analyse zu dieser Entwicklung, die hier die Charaktere hervorbringt? Statt in den anderen immerzu die autoritäre Verfehlung zu erkennen, bestünde die Probe auf den gesellschaftstheoretischen Gehalt darin, an der eigenen Perspektive die autoritäre Tendenz zu reflektieren, die ebenso die gesellschaftliche Gesamtbewegung bestimmt. Ohne diese Selbstreflexion ist Autoritarismus auch kein Gesellschaftsbegriff, sondern nur eine gute Beschreibung.
Herrschaft der Abstraktion
Man kann demgegenüber nun einwenden, dass weder die international vergleichende Politikwissenschaft des Sammelbands von Frankenberg und Heitmeyer noch die Charakterstudien von Amlinger und Nachtwey einen solchen gesellschaftstheoretischen Anspruch erfüllen müssen. Vielleicht ist das ein externer Maßstab, der der Sozialwissenschaft etwas vorwirft, das sie nicht leisten will. Gleichzeitig steckt aber in der Konjunktur des Autoritarismusbegriffs das Eingeständnis, dass die bisherigen Beschreibungen der Gesellschaft nicht taugen. Die Dynamiken der Regression haben sich zugespitzt und die multiplen Krisen der Gegenwart deuten immer mehr auf einen Zusammenhang hin, der ungenügend begriffen ist. »Die Moderne ist indes eine kapitalistische Moderne«, heißt es bei Amlinger und Nachtwey. Aber diese abstrakte Gewissheit hilft nicht wirklich weiter.
Es ist daher kein Zufall, dass mit dem Autoritarismus ein Begriff wiederkehrt, der einmal genau jenes Erklärungspotenzial bot. Zu gern würde man an den Erkenntnisgehalt der Kritischen Theorie anschließen. Zumindest symbolisch, denn zu ernst ist der Anspruch, den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang auf den Begriff zu bringen, nicht gemeint. Eine strenge Gesellschaftstheorie würde auch die Selbstkritik bedeuten, die man sich in der politischen Ökonomie der Wissenschaft schwerlich erlauben kann. Das führt in den Widerspruch, dass einerseits von einem fundamentalen Wandel der Gesellschaft gesprochen wird, der ständig neue Konzepte und Begriffe hervorbringt und andererseits, wenn man in Erklärungsnot kommt, einfach gesagt wird, grundlegende Strukturen seien doch gleich geblieben. An diesem Widerspruch ließe sich auch etwas Gesellschaftliches erkennen: die Tendenz zur Herrschaft der Abstraktion, die der Begriff des Autoritarismus einmal zu fassen vermochte.
Günter Frankenberg und Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.): Treiber des Autoritären. Pfade von Entwicklungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Campus 2022, 532 S., 45 €.
Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey: Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus. Suhrkamp 2022, 480 S., 28€.
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