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Kein Überwachen, kein Strafen?
Mit der Entstehung von »Black Lives Matter« ist ein radikales Konzept in den Fokus gerückt: die Abschaffung von Polizei und Gefängnis. Der jüngst erschienene Sammelband »Abolitionismus« stellt diesen Ansatz vor
Defund the police!» Diese Parole riefen zehntausende Menschen nach der Ermordung von George Floyd im Mai 2020 im US-amerikanischen Minneapolis, bis der Stadtrat tatsächlich vorerst die Auflösung der städtischen Polizeistruktur beschloss. Die Ansätze eines solchen «Abolitionismus» sind schon älter, aber seit 2020 verbreiten sie sich rasant in aktivistischen und wissenschaftlichen Kreisen rund um die Welt. Immer mehr Menschen wird klar, dass die Polizei nur manche schützt und für andere Kriminalisierung und Gewalt bedeutet. Aber was machen wir, wenn wir nicht mehr die Polizei rufen können? Das ist eine der Fragen derjenigen, für die das überhaupt eine sichere Option ist und die sich eine Welt ohne repressive Systeme noch nicht vorstellen können.
Nun haben Vanessa E. Thompson und Daniel Loick den Reader «Abolitionismus» herausgebracht, der die Ideen des Ansatzes dem deutschen Sprachraum zugänglich macht. Die Beiträge beschreiben die Dringlichkeit einer grundlegenden Änderung und beantworten zweifelnde Fragen. Eine andere Welt wird damit nicht nur vorstellbar, sondern es werden auch konkrete Schritte aufgezeigt, mit denen wir anfangen können – wenn nicht schon längst damit begonnen wurde.
Fokus auf Institutionen
Der Abolitionismus steht nicht einfach für die Abschaffung der Polizei, sondern er beschreibt eine umfassende Weltsicht, Theorie und Praxis, wie kapitalistische, insbesondere rassistische, repressive und strafende Institutionen und Dynamiken überwunden werden können. An ihrer Stelle sollen neue Formen des Zusammenlebens, fern von Ausbeutung und Unterdrückung etabliert werden; wie es Thompson und Loick zusammenfassen, geht es um die «Bildung von neuen Verhältnissen, Rationalitäten, Beziehungs- und Produktionsweisen».
Die abolitionistische Programmatik wird im Buch unter anderem anhand ihrer historischen Ursprünge dargestellt. Erste abolitionistische Bewegungen verorten die Herausgeber*innen in den Schwarzen Massenwiderständen gegen den Plantagenkapitalismus im 19. Jahrhundert, insbesondere der haitianischen Revolution zum Ende des 18. Jahrhunderts, die als die erste erfolgreiche Revolution Schwarzer versklavter Menschen gilt. In seinem Ziel der kompletten Überwindung der kapitalistischen Ordnung und der Schaffung einer neuen sozialen Welt fernab von rassistischen, patriarchalen und weiteren gewaltvollen Logiken gleicht der Abolitionismus sozialistischen, kommunistischen oder anarchistischen Strömungen. Er unterscheidet sich jedoch in der Akzentsetzung, indem er sich insbesondere gegen strafende und kriminalisierende Institutionen richtet, die als Herrschaftsinstrument zur Unterwerfung armer und nicht-weißer Menschen analysiert werden.
Für die meisten Menschen ist eine Welt ohne Gefängnisse und staatliches Strafen kaum vorstellbar. Der Gedanke, dass «böse» oder «kriminelle» Menschen eingesperrt oder aus Angst vor Strafe gar nicht erst in diesem Sinne tätig werden, gibt vielen das Gefühl von Sicherheit. Mit diesem Fehlschluss räumt der Sammelband allerdings gründlich auf: Es wird sinnvoll argumentiert und umfassend wissenschaftlich belegt, dass das Konzept Strafe und die Institution Gefängnis keine präventive oder abschreckende Funktion haben.
Die US-amerikanische Aktivistin und Theoretikerin Angela Davis, die sich seit Jahrzehnten für die Abschaffung von Gefängnissen einsetzt, beschreibt diese in ihrem Beitrag als «überflüssige und untaugliche Institution», die Gewalt und Leid in der Welt nicht verhindert, sondern im Gegenteil sogar produziert. Besonders für arme und rassismusbetroffene Communities bedeuten Gefängnisse «autoritäre Reglementierung, Gewalt, Krankheit und Hafttechnologien, die die geistige Stabilität zerstören». Eindrucksvoll und verstörend berichtet Mumia Abu Jamal, der seit 1982 in den USA inhaftiert ist, von einem Alltag im Gefängnis, dessen Grausamkeit kaum auszuhalten ist. Die Beiträge sind sich darin einig, dass diese Gewalt zum Wesen der Institution gehört. Deshalb kann im Sinne des Abolitionismus keine Reform des Gefängnisses angestrebt werden, sondern nur seine komplette Abschaffung.
«Das Gefängnis» meint dabei nicht allein den konkreten Ort, sondern ein ganzes System karzeralen Denkens; Ideologien von der Sinnhaftigkeit von Strafe und Vergeltung, die überwunden werden müssen. Diese Ideologien sind strukturell und historisch besonders stark in einer weiteren Institution verankert, deren Überwindung im Programm des Abolitionismus besondere Priorität hat: die Polizei. Wie grundlegend (tödliche) Gewalt und Rassismus im Verhalten der Polizei angelegt sind, analysieren Assa Traoré und Geoffroy de Lagasnerie in ihrem Beitrag zum Sammelband; mit eindrücklichen und berührenden Worten beschreiben sie den Mord an dem Schwarzen Franzosen Adama Traoré durch die Polizei.
Alternativen zur Polizei
Aber wie begegnen wir sexueller und misogyner Gewalt, wenn es keine Polizei gibt? Das wird an dieser Stelle häufig auch aus dem linken und feministischen Lager gefragt. Auch die Annahme allerdings, dass Polizei, Gefängnisse oder Strafen vor sexualisierter Gewalt schützen, widerlegt der Sammelband. Es wird dargelegt, wie diese Institutionen selbst nach patriarchalen Logiken funktionieren und in diesem Sinne patriarchale Gewalt nicht verhindern können. Stattdessen perpetuieren sie in der Realität häufig diese Gewalt eher noch und bewirken eine (Re-)Traumatisierung der Betroffenen.
Und auch die Frage nach Alternativen zum Ruf nach der Polizei kann der Reader beantworten: Abolitionismus bedeutet auch die Entwicklung alternativer Praxen der Sicherheit, die laut dem Beitrag von Ruth Wilson Gilmore nicht in der Machtübernahme, sondern im gemeinsamen Finden von «etwas hoffnungsvollerem und sinnvollerem als Macht» bestehen. Beispielhaft werden Prozesse der Transformation und kollektiven Verantwortungsübernahme nach Gewalttaten in Communitys beschrieben: Elaborierte Programme von Reparationen, Heilungsprozessen, Austausch und der gemeinsamen Überwindung von Scham und Bestrafung ermöglichen gewaltbetroffenen Personen und Communities Regeneration und – auf der gewaltausübenden Seite – idealerweise eine Transformation. Weitere Beispiele abolitionistischer Strategien sind solidarische nachbarschaftliche Organisationen, freundschaftliche Unterstützungsgruppen, gemeinschaftliche Gesundheitsfürsorge oder dekoloniale und queere Bildungsprogramme.
Nach der Lektüre des Readers weiß die Leser*in nicht nur, was Abolitionismus ist, wo und wie er entstand und warum es höchste Zeit ist, «alles» zu ändern, wie es Gilmore ausdrückt. Sondern sie lernt auch, wie man es ändern kann. Abolitionismus ist kein revolutionäres Ereignis in der fernen Zukunft, sondern ein Prozess, der bereits begonnen hat, in den alle jederzeit einsteigen können und der für viele, insbesondere marginalisierte, Communities schon lange alltägliche Realität ist. Der Sammelband enthält hauptsächlich Texte aus dem nordamerikanischen Raum, wo der Ansatz des Abolitionismus seine Ursprünge hat und auch am umfangreichsten diskutiert wird. Aber die soziodemografischen und politischen Umstände in den USA und Kanada unterscheiden sich von den hiesigen, weshalb eine Darstellung von staatlicher Gewalt und abolitionistischer Bewegung in Deutschland eine gute Ergänzung wäre. Denn auch in Deutschland gibt es unzählige Menschen, Gruppen und Communities, die heute (und seit Generationen) aus staatlich-repressiven Schutzsystemen fallen und sich selbst, unabhängig von den entsprechenden Institutionen, um ihre Sicherheit kümmern.
Polizeigewalt in Deutschland
Insbesondere tödliche Polizeigewalt wird in Deutschland medial kaum wahrgenommen, obwohl sie immer drastischere Ausmaße annimmt. Allein im August dieses Jahres tötete die Polizei innerhalb einer Woche vier Menschen: Am 2. August wird der 23 Jahre alte, aus Somalia geflüchtete und wohnungslose Amin F. durch ein Sondereinsatzkommando in einem Hotelzimmer erschossen; am 3. August erschießen Polizist*innen den 48-jährigen russischen Musiker Jozef Berditchevski im Zuge der Zwangsräumung seiner Wohnung; am 7. August wird ein 39-Jähriger, der sich in einer psychischen Krisensituation befindet, von der Polizei in seiner Wohnung in Oer-Erkenschwick getötet, die ihn überwältigt, «fixiert» und mit Pfefferspray einsprüht; am 8. August richtet die Polizei mit fünf Schüssen aus einer Maschinenpistole den 16-jährigen geflüchteten Senegalesen Mohamed Lamine Dramé hin, der sich ebenfalls in einer psychischen Krise befindet.
Und auch im laufenden Monat starben bereits zwei Menschen unter den Händen von Polizist*innen: Der 64-jährige, mit Schizophrenie lebende Kupa Ilunga Medard Mutombo starb nach zweiwöchigem Koma am 6. Oktober in einem Berliner Krankenhaus. Zuvor hatten ihn drei Polizisten von seinem Wohnheim in eine ambulante Einrichtung begleiten sollen, aber Mutombo war beim Anblick der Uniformierten in Panik geraten, woraufhin die Beamten ihn «fixierten», also auf ihm sitzend mit dem Knie auf den Hals drückten, bis er in das tödliche Koma fiel. Und am 19. Oktober brachten Polizist*innen in Dortmund einen wohnungslosen 44-jährigen Mann mit einer Elektroschockpistole, einem «Taser», um.
Alle diese Menschen waren arm und psychisch krank oder in einer Krisensituation, fast alle waren nicht weiß. Wie die Beispiele zeigen, ist das polizeiliche Töten rassismusbetroffener, psychisch kranker oder von Armut betroffener Menschen in Deutschland keinesfalls eine Ausnahme, sondern nur die Spitze der Gewalt, die in den verschiedensten staatlichen Institutionen alltäglich ausgeübt wird. Loick und Thompson bezeichnen gerade die Erfahrung von Polizeigewalt in einem gemeinsamen Artikel als Moment, «über das sich die Perspektiven verschiedener unterdrückter und marginalisierter Gruppen verbinden» lassen, woraus sich eine «neue gesellschaftliche Protestbewegung formieren könnte». Für diese Bewegung ist es längst Zeit – auch in Deutschland.
Daniel Loick/Vanessa E. Thompson:
Abolitionismus. Ein Reader.
Suhrkamp, 619 S., br., 28 €.
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