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Der schöne Schmutz
Im Schleudergrund: »Das Ungeheuer«, Gunnar Deckers Essay über Michel Houellebecq
Gunnar Deckers Zuneigung gehört Extremisten der Weltlust und des Weltekels, Radikalen der Ergriffenheit und der Entrückung. Über Fühmann hat er geschrieben, über Rilke und Benn, über Barlach und van Gogh. Auch Hesse, den scheinbar rundgeschliffenen unter den bürgerlichen Geschmacksdiamanten, führte er zurück in die Wahrheit dessen, was ihn an Biografien bewegt: Das Begreifen wirklicher Liebe setzt deren Verlust voraus.
Nun also Michel Houellebecq: »Das Ungeheuer«. Schöner Buchtitel. Das Ungeheuerliche ist der überzeugendste Ausweis guter Literatur. Houellebecq ist krass, zerfaltet. Ein ruchvolles, dampfend kaltes Gemüt. Verworfen, im lobendsten Sinne: verdreckt. Decker liest sich durchs Sturzgebiet der Romane, steigt in die Fallgruben der Interviews, nähert sich dem brutalen Geist der Aufsätze. In der Literatur des Franzosen (»Elementarteilchen«, »Unterwerfung«, »Vernichten«) scheint das hässliche Martyrium modernen Daseins auf: leibfressende Krankheit, kopffressender Selbsthass, ledernes Single-Dasein, bürgerlich-perverse Glitschglätte.
Das reizt Decker? Ja, denn er ist ein Feingeist. Ein Zimmermensch. Auf glückliche Weise in der Welt treibend – auf dem Stuhl daheim. Der Feingeist weiß: Was einleuchtet, kann die Wahrheit nicht sein. Bleib im Dämmer! Dies lockt Decker hin zu Houellebecq, dem derben Dandy: Der ist mit zwielichtiger Freude undialektisch. Er sei ein Parasit, so der räudige Schriftsteller über sich selbst. Just das kennzeichne den wahren Künstler: Er kann am besten »auf dem Körper reicher und in Verwesung befindlicher Gesellschaften gedeihen«. So wird man im Galligen zum Genießer.
Decker, so scheint es, porträtiert seine eigene Verlorenheit. Er führt uns durch einen Schleudergrund der Vergewisserung: dass wir in entseelten Zeiten existieren. Angesichts jedweder politischen Rezeptur, von welcher Seite auch immer, erscheint alles Widerliche in Houellebecqs Romanen und Selbstbekenntnissen wie ein befreiendes Lob der Unvollkommenheit. Wir sind Dickfellige, die sich dünnhäutig geben; wir betäuben uns derart mit eindeutigen, eindeutig falschen Weltbildern, dass man befriedigt aufschreien möchte vor dem, was Decker in Houellebecq sieht: einen »Erzketzer, der von einem guten und einem bösen Gott ausgeht«. Menschlicher kann man Gott nicht fassen. Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr.
Mir scheint, in keinem seiner Bücher setzt Decker derart viele Fragezeichen. Er fragt nach den Versuchungen der Unfreiheit, denen Intellektuelle unterliegen, wenn Missionen anstehen. Fragt nach dem Mut des Einzelkampfes bei Menschheitsthemen. Nach der Besonnenheit des engagierten – Beobachtens. Nach den Verletzungsgefahren innerer Freiheit. Im Text tauchen die traurigen Güter des gegenwärtigen philosophischen Denkens auf wie zerbrochene Teile eines Mobiliars – aus festen Gedankengebäuden wurde es gleichsam auf eine schmutzige Straße gespült; kurz taumeln die geistigen Erbstücke an der Oberfläche, dahingeschwemmt leuchten sie auf, dann werden sie wieder untergespült, in die Strömung des Verwitterns gezogen und weiter zermalmt. Ein Strom des Sinnierens, in dessen plötzlichen Schnellen der Unrat des Zeitgeistes tanzt.
Mit seinen Interpretationen Houellebecqs wendet sich Decker gegen ödes Begreifenwollen und Belehrenmüssen und Erklärenkönnen. Sein Text sagt: Nur immer fest überzeugt zu sein ist eine Not. Und eine Lüge. Logisch, dass linkes Denken ins Visier gerät. Links scheint dort zu sein, wo die ganze Artenvielfalt unserer Regungen, unsere glücklichen und vergeblichen Versuche, uns mit der Welt zu verständigen, leider allzu schnell der Ödnis gesellschaftskritischer Kurzbegriffe zum Opfer fallen. Decker schüttelt mit Houellebecq den Kopf: diese fade Weltbeholfenheit noch im Stochern! Diese langweilende Suche, Kunst nach altbackener Gesellschaftskritik abzuklopfen! Noch aus notwendigem Diversitätsgeist erwuchs längst eine neue Despotie des Kanzelns. Da hat man Lust auf alles, was medial nicht zur Debatte steht; bloß weg vom plumpen roten Theatervorhang, hinter dem täglich eine neue Operette der Emanzipation einstudiert wird.
Dieses Buch offenbart Houellebecq als einen Romantiker, und dem folge ich gern. Der Romantiker fragt die Sturmwarnung: Warum? Denn die wahre Unsicherheit beginnt, wo die Füße festen Boden haben. Romantisch ist alles, was lebt, um sich zu sehnen. Das Enfant terrible raucht, um sich nach anderer Luft zu sehnen. Er verhält sich unrein, um den Verlust einer (illusionären) Reinheit zu beschwören. Er kotzt, um seiner Lust auf Alkohol neuen Raum zu schaffen. Und er trinkt, weil er einem Rausch nachstrebt, der gesünder ist als die Nüchternheit der Vernunft. Dieser Schriftsteller hat keine Furcht vor den Rissen, durch die man hineinsehen kann in jenen Abgrund, der lockt – und tötet?
Den Essay durchzieht der Kitzel des Unverstehens – zwischen Traum und Wirklichkeit, Mann und Frau, Geist und Körperschaften. Decker jongliert mit Carl Amery und Jean Baudrillard, mit Ernst Jünger und Oswald Spengler. Einmal schreibt Decker von einem »Abschiedsblick zur Begrüßung«. Das ist – bei Houellebecq, bei jedem ernst zu nehmenden Intellektuellen und rücksichtslosen Künstler – die artistische, verzweifelte Grundhaltung: Offenheit im Denken – bei äußerster Vorsicht. Begegnungsfreude – nicht ohne Lauer auf Abkehr. Nähe – nie ohne Rüstung. So zurück zu allen Anfängen: bis das Ende sichtbar wird.
Gunnar Decker: Houellebecq. Das Ungeheuer. Matthes & Seitz Berlin, 272 S., geb., 22 €.
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