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Visionen an Seine und Spree
Trotz aller Unterschiede stehen die Hauptstädte Deutschlands und Frankreichs vor durchaus ähnlichen Herausforderungen
Die deutsch-französischen Beziehungen sind derzeit alles andere als unbeschwert. Einer der Gründe ist der von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) verkündete »Doppelwumms«. Deutschland legt für sich enorme Hilfsprogramme auf, die sich andere Staaten nicht leisten können, gibt sich aber zögerlich, wenn es auf EU-Ebene um Markteingriffe bei den Gaspreisen geht. Auch in Rüstungsfragen liegt einiges im Argen. Die Folgen des Angriffskriegs auf die Ukraine belasten zweifelsohne das Verhältnis beider Länder.
Auch in den Hauptstädten spürt man die Auswirkungen des Kriegs. Allen voran in Berlin, wo zahlreiche Kriegsflüchtlinge angekommen sind, für die es auch Wohnraum und Schulplätze braucht. »Unsere Städte sollen sichere Häfen für geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer sein«, sagte Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD), als ihre Pariser Amtskollegin Anne Hidalgo sie im September besuchte.
Paris und Berlin – das sind zum einen sehr unterschiedliche Städte. Als Bürgermeisterin ist Hildalgo nicht für das, was man als Großraum kennt, sondern nur für den Kern von Paris zuständig: etwas über zwei Millionen Einwohner auf einer Fläche, die acht Mal in das Stadtgebiet Berlins passt. Die Bevölkerungsdichte an der Seine ist um ein Vielfaches höher als in Berlin und die Mietpreise pro Quadratmeter mit 29 Euro auf einem Stand, den man in Berlin vermeiden will, wie Franziska Giffey in dieser Woche bei der Städtebaukonferenz Paris-Berlin sagt.
Unter den Partnerschaftsvertrag beider Städte setzten noch Eberhard Diepgen (CDU) als Regierenden Bürgermeister und der damalige Pariser Bürgermeister und spätere französische Präsident Jacques Chirac ihre Unterschriften. Das war 1987. Gerade einmal eine Seite lang war das Dokument. In den 35 Jahren seitdem ist viel passiert. Berlin ist nicht mehr durch die Mauer geteilt. Auch der Klimawandel ist gerade in den urbanen Zentren, deren Betonschluchten sich im Sommer extrem aufheizen, nicht mehr zu übersehen.
»In Städten werden die Auswirkungen globaler Veränderungen am schnellsten sichtbar. Ob beim Klima oder der Migration, wir schauen darauf wie durch ein Brennglas«, sagt Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel (SPD) bei der Städtebaukonferenz. Ein oft geäußerter Befund, der mittlerweile auch mit der Hoffnung verbunden wird, dass nicht zuletzt in den Städten die Lösungen für global auftretende Probleme gefunden werden. Beispielhaft ist hier das überspitzte Plädoyer des US-amerikanischen Publizisten Benjamin Barber dafür, dass Bürgermeister die Welt regieren sollten. Denn in Städten würden pragmatische Lösungen gefunden für Probleme, an denen Nationalstaaten scheiterten, so die These. Wer die Berliner Verwaltungen kennt, dürfte daran seine Zweifel haben.
Vielleicht wäre es ja schon ein Anfang, wenn Städte erst einmal voneinander lernten. Lea Wisken leitet die Koordinierungsstelle Rad in der Berliner Senatsmobilitätsverwaltung. Gefragt nach dem, was die Hauptstadt an der Spree von Paris lernen könne, sagt sie bei der Konferenz: »Beim Thema Zweirichtungsradwege gibt es einen gewissen Pragmatismus, den wir nicht haben oder nicht haben können.«
Unter der Sozialdemokratin Anne Hidalgo hat Paris in den vergangenen Jahren den Ausbau der Radverkehrsinfrastruktur stark vorangetrieben. Eingeprägt hat sich das Bild vom Ufer der Seine, an dem ein Park entstand, Cafés sich ansiedelten und Radfahrer nun dort fahren, wo zuvor noch eine Schnellstraße war. Auch eine Straße wie die Rue de Rivoli, die vom Place de la Concorde vorbei an den Tuileries, dem Louvre und dem Rathaus von Paris bis zum Place de la Bastille führt, ist jetzt eine Fahrradstraße.
Hildalgo hat sich viel vorgenommen. Bis 2026 soll die Stadt komplett mit dem Rad befahrbar sein. Bis dahin soll ein Fahrradnetz ähnlich dem Metronetz entstehen, mit Zweirichtungsradwegen auf den Hauptachsen. Zwei Fahrradpläne wurden aufgestellt, zwischen 2015 und 2020 wurden 150 Millionen Euro in das Radverkehrsnetz investiert. Bis 2026 sollen noch einmal 250 Millionen hinzukommen.
Als Giffey im Juli in Paris war, sei sie »fast überfahren« worden von einem Radfahrer, erzählte sie damals. Bestärkt habe sie das in ihren Vorbehalten hinsichtlich einer allzu schnellen Verkehrswende. Diese droht gegenwärtig allerdings nicht. 2016 gab es in Berlin den Volksentscheid Fahrrad, dem ambitionierte Pläne folgten. 2018 wurde das Berliner Mobilitätsgesetz verabschiedet, vergangenes Jahr folgte dann der Radverkehrsplan, mit dem Ziele und Maßnahmen für den Ausbau des Radverkehrs bestimmt wurden.
Erst im Juni hatte der aus dem Volksentscheid hervorgegangene Verein Changing Cities anlässlich des vierten Jubiläums der Verabschiedung des Mobilitätsgesetzes eine bittere Bilanz gezogen. Ein Drittel der Zeit bis zur finalen Umsetzung im Jahr 2030 habe die zuständige Senatsverwaltung weitgehend ergebnislos verstreichen lassen, hieß es von den Fahrradaktivisten.
2350 Kilometer lang soll das Radverkehrsnetz in Berlin werden, als ein Teil ist zunächst ein 850 Kilometer langes Vorrangnetz geplant. 40 Kilometer seien schon gebaut, für 60 sei die Planung abgeschlossen, 220 würden gerade geplant, zählt Lea Wisken von der Koordinierungsstelle Rad auf. Das Vorrangnetz solle bis 2027 fertig sein, es brauche deshalb eine enorme Steigerung der Plan- und Baukapazitäten, kritisiert Changing Cities. Von nötigen finanziellen und strukturellen Veränderungen in der Senatsmobilitätsverwaltung sprechen die Fahrradaktivisten.
Als »Vision Zero« ist im Mobilitätsgesetz das Ziel benannt, dass niemand mehr im Berliner Straßenverkehr stirbt. Auch hier hat Berlin noch einen langen Weg vor sich. Erst am Donnerstagabend ist eine 44-jährige Radfahrerin verstorben, die am Montag von einem Betonmischer erfasst wurde. Allein in diesem Jahr sind somit schon acht Radfahrer bei Verkehrsunfällen in Berlin getötet worden – acht zu viel.
Nicht nur in Berlin, wo Gewerbetreibende gegen die autofreie Friedrichstraße klagen, hat die Verkehrswende Gegner. Gegen das autofreie Ufer der Seine begehrten Autolobby und Taxifahrer in Paris auf. Was oft vergessen wird: Der radikalen Veränderung der Städte, die Verkehrsaktivisten herbeisehnen, ging ein ebenso tiefgreifender Eingriff im Zuge des Umbaus zur autogerechten Stadt voraus.
Philippe Chiambaretta, als Architekt mit der Umgestaltung der Champs-Élysées beauftragt, zeigt bei der Städtebaukonferenz, wie sich die Pariser Prachtstraße über die Jahrhunderte veränderte. Ein Zeitraffer zeigt, wie die Umgebung um die berühmteste Pariser Straße immer dichter bebaut wurde und nach und nach das Grün verschwand. Was geblieben ist, ist der bis in die 50er Jahre bei den Parisern beliebte öffentliche Park an den Champs-Élysées.
»An einem gewissen Punkt ist etwas aus dem Ruder gelaufen«, sagt Chiambaretta. Große Ketten siedelten sich an, hauptsächlich sind Touristen heute auf der einstigen Prachtstraße unterwegs, die Verkehrsdichte ist hoch, das gilt auch für die Feinstaubwerte. Es ist laut und heiß vor dem »Shoppingcenter entlang einer Autobahn«, wie Chiambaretta die einstige Prachtstraße nennt. Auch seien im Park Champs-Élysées kaum noch Pariser zu finden. »In den 60ern und 70ern ist hier alles dem Auto geopfert worden«, sagt Chiambaretta.
»Hyperleere« nennt der Architekt den gegenwärtigen Zustand, weil das Gebiet um die Straße aus dem Alltag der Pariser verschwunden ist. Wenn es hier in den kommenden Jahren auf der Champs-Élysées darum geht, die Autos zurückzudrängen, ist die Motivation nicht nur, Verkehr und Stadt klimagerecht umzubauen. Es geht auch darum, den Parisern den öffentlichen Raum wiederzugeben.
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