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Wechselstimmung im Tal

Latinos waren lange Zeit eine verlässliche Wählerbasis für die Demokraten. Doch im Süden der USA beginnen Loyalitäten aufzubrechen

  • Johannes Streeck, McAllen
  • Lesedauer: 7 Min.

An der Südspitze von Texas liegt das Rio Grande Valley, das meistens schlicht als »das Tal« bezeichnet wird. Die fruchtbare Erde und die Verfügbarkeit von Wasser haben im Tal schon vor Jahrtausenden Landwirtschaft ermöglicht. Für den trockenen, heißen Südwesten der USA ist die Gegend bis heute eine der wichtigsten Agrarregionen.

Politisch war das Rio Grande Valley lange Zeit ziemlich bedeutungslos. Dass die Region, in der mittlerweile 1,3 Millionen Menschen leben, von der texanischen Politik kaum wahrgenommen wird, hat nicht nur geografische Gründe. Über 90 Prozent der Bevölkerung sind Latinos und damit Teil einer Wählergruppe, denen der Zugang zu freien Wahlen immer wieder verweigert und erschwert wurde. Auch heute macht Texas seinen Wähler*innen die Stimmabgabe nicht leicht: Laut einem kürzlich veröffentlichten Vergleich des »Election Law Journal« zum Aufwand des Urnengangs in den USA belegt Texas von 50 Bundesstaaten den 46. Platz.

Für die Demokratische Partei ist das Rio Grande Valley schon seit Langem eine wichtige politische Basis. Im republikanisch dominierten Texas konnten sie sich auf die Kongressbezirke entlang der Grenze zu Mexiko verlassen. Doch spätestens seit zwei Jahren sind diese Hochburgen in Gefahr. Denn der jungen Republikanerin Mayra Flores gelang es, einen der drei Wahldistrikte des Rio Grande Valley zu erobern, und bei den Wahlen am 8. November könnten die beiden anderen folgen.

Dass gerade das Rio Grande Valley immer weiter zu den Republikanern zu tendieren scheint, widerlegt die Annahme, dass Latinos in den USA automatisch die Demokraten wählen. Als Donald Trump bei den letzten Präsidentschaftswahlen deutliche Stimmgewinne im Tal erzielen konnte, sorgte dies auch international für Schlagzeilen. Die Demokratische Partei setzte in republikanisch geprägten Bundesstaaten wie Texas lange auf den schleichenden demografischen Wandel, um irgendwann an die Macht zu gelangen. In Texas, wo rund 30 Millionen Menschen leben, sind Weiße schon jetzt in der Minderheit und Latinos die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe. Die Realitäten im Rio Grande Valley zeigen aber, dass dieser Wandel für die Demokraten bei Weitem keine Garantie für einen politischen Erfolg ist.

Die anstehenden Wahlen in McAllen sind derzeit kaum zu übersehen. An jeder größeren Ecke der breiten Boulevards, die die Stadt durchqueren, sind Ansammlungen von Wahlplakaten zu sehen. McAllen ist zwischen zwei Kongressdistrikten aufgeteilt, die momentan noch in demokratischer Hand sind. Besonders der Abgeordnete Henry Cuellar gilt als angreifbar. Der Demokrat ist seit 2005 für den 28. Distrikt von Texas im US-Repräsentantenhaus und gilt dort als einer der konservativsten Vertreter seiner Partei. Als einziges demokratisches Kongressmitglied ist er ein erklärter Abtreibungsgegner, auch deshalb überlebte er den Vorwahlkampf gegen eine deutlich progressivere Herausforderin im Frühling nur knapp. Zudem gibt es handfeste Korruptionsvorwürfe gegen Cuellar, dem unlautere Verbindungen zum staatlichen Ölkonzern von Aserbaidschan vorgeworfen werden.

Viele Anhänger*innen der Demokraten aus dem Rio Grande Valley bemängeln, dass die nationale Parteiführung kein Interesse an den spezifischen Belangen der Region hat. »Sie sprechen nicht über die Themen, die hier wichtig sind«, sagte der demokratische Lokalpolitiker Juan Hinojosa kürzlich auf einer Parteiveranstaltung. »Sie investieren hier einfach nicht genug.« Hinojosa sind die Ideen der progressiven Parteivertreter*innen von der Ostküste im Valley einfach nicht anschlussfähig. In der Grenzregion wolle man von Themen wie einer Polizeireform oder einer weniger harten Gangart in der Einwanderungspolitik einfach nichts wissen.

Andere Kritiker*innen der Demokraten im Rio Grande Valley bemängeln, dass diese überhaupt so lange auf Cuellar gesetzt haben. Jessica Cisneros, die progressive Herausforderin von Cuellar bei den Vorwahlen der Demokraten im Mai, kam Cuellar gefährlich nahe. Daraufhin wurde der Amtsinhaber plötzlich massiv durch die nationale Parteiorganisation der Demokraten unterstützt – auch finanziell. Die Sprecherin des Repräsentanenhauses, Nancy Pelosi, der Mehrheitsführer Jim Clyburn und andere hochrangige Parteimitglieder unterstützten Cuellar in der letzten Wahlkampfphase zudem durch ihre Teilnahme an Wahlkampfveranstaltungen. Cuellear verdankt ihnen wohl seinen knappen Sieg über die linke Cisneros.

Viele Menschen im Rio Grande Valley fühlen sich politisch fremdbestimmt – aus Washington, aber auch aus der texanischen Hauptstadt Austin. Terry Bermea ist eine demokratische Aktivistin für die Organisation Battleground Texas, die sich vornehmlich mit der Registrierung von neuen Wähler*innen befasst. Das Tal sei keine heimliche republikanische Hochburg, sagt sie, »sondern vor allem eine Region, in der nicht gewählt wird«. Die Wege in den ländlichen Gegenden des Rio Grande Valleys sind weit, die Armutsrate liegt weit über dem nationalen Durchschnitt. Über ihre eigene Jugend im Tal sagt Bermea, dass Politik zu Hause kaum eine Rolle gespielt habe. »Dafür war einfach keine Zeit«, sagt sie.

Das wohl wichtigste politische Thema im Rio Grande Valley ist vielerorts mit bloßem Auge zu sehen: die Grenze zu Mexiko, die inzwischen aufwändig geschützt wird. Die Grenzziehung hat sich über die Jahrhunderte immer wieder verschoben. Texas selbst war lange Teil von Mexiko, kurzzeitig unabhängig und ist nun Teil der USA. In den vergangenen Jahrzehnten wurde aus den vielen inoffiziellen Übergängen und losen Kontrollen eine harte Trennlinie, die nun zunehmend militarisiert ist.

Die vielen Bewohner*innen des Rio Grande Valley ohne amerikanische Staatsbürgerschaft haben keine Möglichkeit, am politischen Prozess teilzunehmen. Für andere Wähler*innen ist die Grenznähe ein weiterer Grund, um die Republikaner zu wählen. Der republikanische Gouverneur von Texas, Greg Abbott, hat unter dem Namen »Operation Lone Star« die Nationalgarde von Texas beordert, um die Grenze zu bewachen. McAllen liegt direkt am Rio Grande, und in der mexikanischen Nachbarstadt Reynosa liefern sich Drogenkartelle und Sicherheitskräfte immer wieder schwere Gefechte. Die unmittelbare Gewalt ist für die Republikaner seit jeher ein effektives Mittel im Wahlkampf, mit der sie ihre Politik von Recht und Ordnung rechtfertigen. Dass diese Auseinandersetzungen in Reynosa durch den lukrativen Markt für illegale Drogen in den USA bedingt sind, wird dabei ebenso übergangen wie die Tatsache, dass McAllen und andere Städte entlang der Grenze zu den sichersten der Vereinigten Staaten zählen.

Die junge Republikanerin Mayra Flores, die vor zwei Jahren überraschend für den benachbarten Wahlkreis in den Kongress gewählt wurde, hat gute Chancen, ihren Sitz zu behalten. Wenn ihre Parteifreundinnen Monica de La Cruz und Cassy Garcia ihre Rennen gewinnen würden, wäre die gesamte Delegation des Rio Grande Valleys im Kongress in Zukunft nicht nur republikanisch, sondern klar dem trumpistischen Lager zuzurechnen. Obwohl der Ex-Präsident mexikanische Einwander*innen einst als »Vergewaltiger und Mörder« bezeichnete, bemühen sich die Kandidatinnen im südlichen Texas um dessen Unterstützung. Flores kommt selbst aus Tamaulipas, einem mexikanischen Bundesstaat, der an das Rio Grande Valley angrenzt.

Tempe, Arizona, liegt fast 2000 Kilometer von McAllen und dem Rio Grande Valley entfernt. Auch hier stehen sich moderate Demokraten und extremistische Republikaner gegenüber, und auch hier könnten die Stimmen von Latinos wahlentscheidend sein. Tempe gehört zu der riesigen Metropolregion um Phoenix. Fünf von sieben Einwohner*innen von Arizona leben in der Hauptstadt oder einer ihrer rapide wachsenden Vorstädte. Arizona spielt in der politischen Landschaft der USA eine immer größere Rolle, die knappe Mehrheit der Demokraten hier war bei der Präsidentschaftswahl von 2020 maßgeblich für den Sieg von Joe Biden verantwortlich. Arizona war lange bekannt für eine breite Unterstützung von moderaten Republikanern. Ein solcher war auch der langjährige Senator und einstige Präsidentschaftskandidat John McCain. Er stilisierte sich als »Maverick«, ein pragmatischer Rebell gegen die Linie beider Parteien, immer bereit, mit politischen Kontrahent*innen zusammenzuarbeiten.

Vom politischen Vermächtnis McCains ist unter den neuen Republikanern von Arizona nur noch wenig zu spüren, denn diese besetzen teilweise unverhohlen rechtsextreme Positionen. Die Demokraten hoffen, dass die Verschwörungstheorien zur gestohlenen Wahl und extremen Positionen zu Abtreibung und LGBTQ-Personen vielen zu extrem werden.

Joe Huguez beschreibt sich selbst als Wechselwähler, der in den vorangegangenen Wahlen mal die Demokraten, mal die Republikaner gewählt hat. Der Feuerwehrmann ist morgens kurz nach Schichtende auf dem Weg zum Frühstück mit seiner Mutter und sagt, dass ihn die Polarisierung in der Politik am meisten stört.

Huguez fühlt sich durch beide Parteien manipuliert: »Die Wirtschaft, Einwanderung, Abtreibung – es geht die ganze Zeit nur um Angst.« Auch wenn er selber sagt, dass Einwanderung und Wirtschaft für ihn wichtige Wahlkampfthemen sind, vermutet er hinter Republikanern und Demokraten oftmals das gleiche Motiv. »Die Leute wollen vor allem die Macht behalten.«

Huguez fühlt sich weder durch die eine oder noch durch die andere Partei repräsentiert. Tatsächlich weicht seine Haltung zur Abtreibung oder zur Einwanderung von den Positionen der beiden Parteien ab. »Man wünschte sich fast, es gäbe eine dritte Option‹‹, sagt er.

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