Berichterstattung auf Steinzeitniveau

Mehr als 2500 Menschen sind 2021 im Straßenverkehr gestorben. Schlagzeilen machen diese Toten kaum

»Hotel-Chef erschlägt Gast mit 5-Kilo-Hantel!« (»Bild«) – »Prozess gegen Axt-Killer: ›Hätte nicht gedacht, dass so viel Blut spritzt‹ « (ebenfalls »Bild«) – »Mann köpft Ehefrau mit Kettensäge« (»Berliner Zeitung«) – »Frau mischt Ehemann Gift ins Essen« (»Kieler Nachrichten«). Dies ist eine kleine Auswahl von aktuellen Schlagzeilen, in denen es um Mord geht.

So ungefähr stelle ich mir auch die Nachrichten in der Steinzeit vor: Neandertalerin: »Hast du gehört? Unser Nachbar hat seinen Onkel mit der Keule erschlagen! Alles wegen eines Mammutzahns, unglaublich…« Neandertaler: »Das ist noch gar nichts! Diese Homo Sapiens-Tussi aus der Höhle da drüben, die sich immer so schlau vorkommt, die hat ihrem Mann einen Giftpilz ins Gemüse gemischt! Aber der hat’s gemerkt und sie erwürgt, haha, geschieht ihr recht.«

Sheila Mysorekar
Sheila Mysorekar ist Journalistin und war langjährige Vorsitzende der Neuen deutschen Medienmacher*innen. Heute ist sie Vorsitzende der Neuen Deutschen Organisationen, einem bundesweiten Netzwerk aus rund 180 postmigrantischen Organisationen. Für »nd« schreibt sie die monatliche Medienkolumne »Schwarz auf Weiß«.

Im Prinzip hat sich unsere Berichterstattung zum Thema Mord seitdem nur wenig weiterentwickelt. Nach wie vor wird direkter Mord von einem Menschen an einem anderen, also sozusagen das handwerkliche Töten, als weitaus schlimmer betrachtet als Mord durch andere Mittel. Zum Beispiel durch Autos.

Hier ein Vergleich: Im Jahr 2021 wurden nach Angaben der Online-Plattform Statista in Deutschland 220 Fälle von Mord (vollendete Taten) registriert. Aber in demselben Jahr sind nach Angaben des Statistischen Bundesamtes insgesamt 2.562 Menschen im Straßenverkehr tödlich verunglückt. Also mehr als zehnmal so viele. Keinesfalls jedoch wenden deutsche Medien zehnmal so viel Druckerschwärze und Sendezeit auf, um jedes einzelne Opfer des Straßenverkehrs zu dokumentieren. Diese Toten werden als bedauerlich, aber unvermeidbar gewertet. Nur Unfälle. Sie sind Zahlen ohne Namen und Gesichter.

Archäolog*innen späterer Jahrhunderte interpretieren diese Toten vielleicht mal ganz anders: als eine symbolische Opfergabe von Menschenleben an den Gott des Autoverkehrs, der mit geheimnisvollen Buchstabenkombinationen benannt wurde, BMW, VW, verehrt mit dem Symbol eines dreizackigen Sterns. Doktorarbeiten im Jahr 2222 werden von unserer Individualverkehr-Obsession handeln, bei der Tausende von Opfern jährlich hingenommen wurden.

Das gilt auch für Todesfälle ganz anderer Dimensionen. Wissen Sie, wie viele Menschen in Deutschland jedes Jahr an Luftverschmutzung sterben? Wahrscheinlich nicht. Bitteschön: Es sind laut Europäischer Umweltagentur (EEA) 80.000 Tote. 400.000 Menschen in der EU sterben nach Angaben der EEA jährlich an Schadstoffbelastung in der Luft, durch Feinstaub, Stickstoffdioxid und bodennahes Ozon. Also durch Straßenverkehr, Industrie-Emissionen und die fossile Energiewirtschaft. Verdreckte Luft tötet weltweit jedes Jahr 8,8 Millionen Menschen (Max-Planck-Institut Mainz).

Uns fehlt buchstäblich die Luft zum Atmen. So sehr, dass es ein massenhaftes Sterben verursacht – wissentlich in Kauf genommen von schmutzigen Industrien und desinteressierten Politikern. Aber diesbezügliche Schlagzeilen sind einfach nur langweilig: »Schmutzige Luft fordert mehr Todesopfer als Rauchen« (MDR) – »Vorzeitige Todesfälle durch Feinstaubbelastung« (»Süddeutsche Zeitung«) – »Abgase: 6.000 vorzeitige Todesfälle durch Stickstoffdioxid« (»Die Zeit«). Zum Gähnen.

Liebe Redaktion der »Bild«! Hiermit schenke ich euch einige knackige Schlagzeilen: »Todeswolken: Feinstaub vergiftet Fünfjährigen« – »Sie erstickten qualvoll – obduzierte Leichen offenbaren grauenhafte Wahrheit« – »Mord durch Reifenabrieb: mit Tempo 220 direkt ins Grab« – »Stickstoffdioxid! Dieses Killer-Gas will dich töten.« Seht ihr, liebe Kolleg*innen? Mit ein bisschen Fantasie könnt ihr richtig dramatische Überschriften zur Luftverschmutzung erfinden. Verkauft sich bestimmt besser als diese 08/15-Morde, die ihr sonst auf den Titel hebt. Nichts zu danken, gern geschehen.

Wir sollten uns vom Steinzeitniveau der Kriminalitätsberichterstattung à la »Mann erschlägt anderen Mann« verabschieden und die Verursacher von Massensterben klar benennen: Autoindustrie und Bleifuß-Politik. Individuell begangene Morde sind deswegen nicht weniger schlimm. Aber Fossilenergie-Firmen und Schwerindustrien nehmen Abertausende Tote billigend in Kauf, um maximal Geld zu scheffeln. Medien dürfen dies nicht in dürren Statistiken verstecken, sondern müssen die Verursacher als das bezeichnen, was sie sind: Mörder.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -