- Berlin
- Kunst im U-Bahnhof
Fenster ins Kriegsgebiet
In drei Berliner U-Bahnhöfen zeigt die Ausstellung »Next Station: Ukraine«, wie die Metro in Kiew und Charkiw Schutz vor russischen Angriffen bietet
Am zweiten Morgen nach dem russischen Angriff weiß noch niemand, wie lange es noch dauern wird, bis man die Metro wieder verlassen kann. Die Zeitpunkte der Attacken sind unvorhersehbar, die Menschen, die sich im Untergrund verschanzt haben, geschockt und verängstigt. In einer Kiewer Metrostation hat der Fotograf Serhii Korovayny zusammen mit seiner Familie und vielen anderen Ukrainerinnen und Ukrainern Zuflucht gesucht. Er will dokumentieren, was geschieht und nähert sich einem älteren Pärchen. Der Mann hat den Arm um seine Frau gelegt, ihre Blicke gehen ins Leere.
»Es ist eines der ersten Fotos, die ich während des Krieges gemacht habe«, sagt Korovayny mehr als acht Monate später. Seit dem russischen Überfall vom 24. Februar war er nicht nur in Kiew selbst unterwegs, sondern auch in Butscha, Irpin und anderen Vororten. An dem Tag, als Korovayny das Paar in der Metrostation fotografiert, befinden sich die russischen Truppen in unmittelbarer Nähe der Hauptstadt. »Alle waren nervös und reagierten schlecht vor der Kamera«, erinnert sich der Ukrainer. »Dieses eine Paar aber war ruhig, als ich auf es zuging. Für mich symbolisieren die beiden die Würde der Ukrainerinnen und Ukrainer in diesen extrem harten Zeiten.«
Das Bild ist nur eines von insgesamt 13 Fotos, die seit Kriegsbeginn in ukrainischen Metrostationen aufgenommen wurden und jetzt in den Berliner U-Bahnhöfen Rosenthaler Platz, Gesundbrunnen und Möckernbrücke zu sehen sind. Die Ausstellung »Next Station: Ukraine« zeigt die Kiewer und Charkiwer Metro im Ausnahmezustand – und eben auch als Schutzraum: Auf den harten Granitböden haben Menschen Pappkartons und Decken ausgebreitet, in den prunkvoll verzierten Bahnhöfen stehen Klappstühle und kleine Zelte. Manche der Schutzsuchenden richten es sich in Bahnwagen ein, Kinder schlafen zwischen den Sitzbänken. Hier und dort stecken Pflanzen in aufgeschnittenen Plastikflaschen, die mit Wasser gefüllt sind.
Ins Leben gerufen wurde die ungewöhnliche Ausstellung durch das Netzwerk n-ost, ein Kollektiv, das Journalisten und Journalistinnen mit dem Fokus auf Osteuropa-Berichterstattung zusammenführt. »Wir wollen klarmachen, was der Krieg tatsächlich bedeutet«, sagt Stefan Günther von n-ost zu »nd«, der das Projekt mit seiner Kollegin Anastasia Anisimova organisiert hat.
Nach bald einem Dreivierteljahr beginnen Berlinerinnen und Berliner, sich an die Bilder aus der Ukraine zu gewöhnen. Günther kann das nachvollziehen, spricht von einem »normalen Effekt«, den die Ausstellung nichtsdestotrotz zu durchbrechen versucht. »In der Zeitung ist es wieder nur ein zerstörtes Haus mehr, das man überblättern kann«, sagt Günther. »In der U-Bahn wirkt das schon stärker. Das soll noch mal einen anderen Zugang ermöglichen.«
Die Bilder sollen auch jene erreichen, die im Alltag so gut wie gar nicht mit der Berichterstattung aus der Ukraine in Kontakt kommen oder sich nicht sonderlich dafür interessieren. »Wer sich in Berlin durch die U-Bahn manövriert, der macht sich vielleicht Sorgen um seine Heizkosten, und das hat natürlich seine Berechtigung«, sagt Günther. Wahr sei aber auch: »In der Ukraine muss man nicht mehr über Rechnungen nachdenken, weil die Heizung sowieso nicht funktioniert.« Es könne nicht schaden, sich auszumalen, wie es wäre, wenn die eigene Stadt, wenn Berlin angegriffen würde. Die Fotos sollen dabei als Denkanstoß dienen.
Als eine Kampagne will Günther die Ausstellung nicht verstanden wissen. »Wir rufen nicht dazu auf, zu spenden oder sonst irgendwas zu tun«, sagt er. Auch wenn die Fotos eine emotionale Wirkung entfalten, handele es sich letztlich um eine Reportage, ein Informationsangebot. Was die Menschen daraus zögen, wolle man nicht beeinflussen. »Es geht einfach nur darum, dass die Bilder gesehen werden.«
Insgesamt fünf Fotografen stellen ihre Werke in den U-Bahnstationen aus, darunter der prominente Kriegsberichterstatter Maxim Dondyuk, aber auch Pavel Dorogoy, der eigentlich auf Architekturmotive spezialisiert ist. »Ich habe mir niemals ausmalen können, ein Kriegsberichterstatter zu werden«, sagt auch Serhii Korovayny, der seit der russischen Invasion ein anderes Leben führt. »Ich glaube jetzt noch mehr an die Macht des Fotojournalismus.« Fotos seien wichtig, damit auch Menschen außerhalb der Ukraine die unterschiedlichen Facetten des Krieges verstehen könnten.
Bei dem, was in Berlin ausgestellt wird, verzichten die Organisatoren auf lange erklärende Texte, lassen die Bilder für sich selbst sprechen. Jeweils zwei Sätze liefern den Kontext zum Foto, dazu gibt es lediglich eine simple Orts- und Zeitangabe. Vergleichsweise nüchtern ist man laut Günther auch bei der Auswahl der Bilder vorgegangen. Denn in den Schutzraum der Metro dringt der Krieg mal weniger, mal stärker vor: »Wir hatten viele grausame Fotos auf dem Tisch liegen. Auf einem von ihnen lag jemand auf der Treppe in seinem Blut.«
Letztlich hat sich n-ost gegen Bilder wie diese entschieden, auch wenn es durchaus Argumente für die drastische Darstellung des Krieges gibt. Wie Günther erklärt, wolle man Rücksicht auf Kinder nehmen und keine Traumata bei ukrainischen Geflüchteten auslösen. Ohnehin hätten die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) dann wohl nicht mitgespielt.
Seit vergangenen Freitag sind einige der Bilder bereits im U-Bahnhof Rosenthaler Platz ausgestellt, am Dienstag nun sind Gesundbrunnen und Möckernbrücke hinzugekommen. Hier will n-ost dafür sorgen, dass möglichst viele Berlinerinnen und Berliner erreicht werden, ohne dass das Projekt den finanziellen Rahmen des Kollektivs sprengt. Unterstützt wird die Nichtregierungsorganisation mit Mitteln der Berliner Landeszentrale für politische Bildung.
Trotzdem werden die Plakate nur für relativ kurze Zeit die üblichen Werbetafeln ersetzen. Auch wenn das verpachtende Werbeunternehmen Wall einen Rabatt gewährt, sind die Kosten über den 24. November hinaus nicht zu tragen. Günther hofft allerdings darauf, dass die Bilder doch etwas länger hängen, falls Wall es nicht gelingt, unmittelbar im Anschluss neue Werbepartner zu finden.
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