• Politik
  • Landgericht Frankfurt am Main

Zweifel an der Einzeltäterthese im »NSU 2.0«-Komplex bleiben

Frankfurter Landgericht spricht Urteil im »NSU 2.0«-Verfahren

  • Robert D. Meyer
  • Lesedauer: 4 Min.

Es kommt nicht oft vor, dass sich Verteidigung und Nebenklage in einem Strafprozess in einem wichtigen Punkt einig sind. Schließlich will Erstere für ihren Mandanten ein möglichst mildes Urteil erreichen, während Zweitere eher das Gegenteil beabsichtigt. Im Fall des vor dem Landgericht Frankfurt am Main angeklagten Alexander M. passen beide sich widersprechenden Perspektiven dennoch zusammen. Dem 54-Jährigen wird vorgeworfen, für mehr als 100 Drohbriefe in Form von Faxen, Mails und SMS verantwortlich zu sein, die an Behörden, Politiker*innen, Journalist*innen, Jurist*innen, Künstler*innen und andere teils prominente Persönlichkeiten verschickt wurden. 30 Verhandlungstage und 50 Zeug*innen später sind Staatsanwaltschaft und Nebenklage überzeugt: M. ist für die zwischen August 2018 und März 2021 versandten und mit »NSU 2.0« gekennzeichneten Hassschreiben verantwortlich. Der arbeitslose IT-Techniker sieht das anders, plädiert auf Freispruch, während seine Verteidigung lediglich erklärt, die von der Staatsanwaltschaft geforderten siebeneinhalb Jahre Gefängnis seien zu hoch angesetzt, was viel über das schwierige Verhältnis zwischen M. und seinen Anwälten verrät.

In einer Frage sind sich Verteidigung und Nebenklage jedoch ungewöhnlich einig: Sie üben deutliche Kritik daran, dass die Staatsanwaltschaft davon ausgeht, M. habe als Einzeltäter gehandelt. Es gibt zumindest Indizien, die eine Beteiligung eines Frankfurter Polizisten vermuten lassen. Kurz bevor im August 2018 das erste Drohschreiben in Form eines Faxes bei der Anwältin Seda Başay-Yıldız einging, gab es auf dem 1. Frankfurter Polizeirevier eine umfangreiche Datenabfrage zu ihrer Person. Zwar wurden der Beamte Johannes S. und seine Kolleg*innen dazu geladen, doch wie so oft kam dabei wenig bis nichts heraus. Die Nebenklage ist allerdings so sehr davon überzeugt, dass das erste Drohfax nicht von M. verschickt wurde, weshalb sie für diese eine Tat Freispruch für den Angeklagten beantragt hat.

Warum, das erklären sechs Betroffene in einer am Dienstag veröffentlichten Stellungnahme anlässlich der für Donnerstag angesetzten Urteilsverkündung. »Wir gehen nach der Beweisaufnahme davon aus, dass der Angeklagte M. die Daten von Seda Başay-Yıldız nicht durch einen Anruf auf dem Revier erhalten haben kann«, heißt es in der Erklärung der drei Linken-Politikerinnen Janine Wissler, Martina Renner und Anne Helm, der Kabarettistin Idil Baydar, der Autorin Hengameh Yaghoobifarah und der Anwältin Başay-Yıldız. Die Sechs bezeichnen es als »Skandal, dass die Staatsanwaltschaft Frankfurt sich auf den vermeintlichen Einzeltäter, den Angeklagten M. festgelegt« habe und versuche, die mögliche Rolle einer Gruppe rechter Beamten*innen auf dem 1. Frankfurter Polizeirevier aus dem Verfahren herauszuhalten.

Unabhängig von einer ungeklärten möglichen Tatbeteiligung wurde in dem Prozess deutlich, dass nicht nur der Angeklagte Alexander M. neonazistische Ideologie vertritt, sondern auch der Polizist Johannes S. offenbar ein extrem rechtes Weltbild vertritt. Der Beamte sitzt in einem anderen Verfahren auf der Anklagebank, weil er zu der extrem rechten Chatgruppe »Itiotentreff« gehörte, in der hessische Polizist*innen rassistische, antisemitische und andere menschenverachtende Beiträge austauschten.

»Mit dem Urteil – so viel steht schon jetzt fest – ist kein Freispruch für rechte Netzwerke in der Polizei verbunden«, heißt es dann auch in der Erklärung der sechs Empfängerinnen von »NSU 2.0«-Drohschreiben. Sie fordern, die Ermittlungen zu den polizeilichen Datenabrufen weiterzuführen, auch mit Blick auf die offenen Ermittlungsverfahren gegen die an der Chatgruppe beteiligten Polizeibeamt*innen.

Beschwichtigende Signale verbreitete am Mittwoch dagegen die Gewerkschaft der Polizei (GdP). Man vertraue darauf, »dass Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden tadellos ihre Arbeit verrichtet haben«, so Jens Mohrherr, hessischer GdP-Landeschef. »Es gibt keine rechten Netzwerke innerhalb der hessischen Polizei«, ist er überzeugt. Es sei klar, dass nicht Polizeibeamt*innen die Drohmails verfasst und versendet hätten. Die Polizei sei vorverurteilt und unter Generalverdacht gestellt worden.

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