Schwere Gewalt gegen Protestierende

Iranisches Regime hat inzwischen mindestens sechs Todesurteile verhängt

  • Omid Rezaee
  • Lesedauer: 4 Min.

Am Montagvormittag kursierten Dutzende Aufrufe in iranischen sozialen Medien, zur Unterstützung der Protestierenden in den kurdischen Gebieten auf die Straße zu gehen. In den letzten Tagen eskalierte die Lage besonders in kurdischen Städten, darunter Mahabad, Piranschahr und Dschawanrud. In Videos aus Mahabad, einer Stadt mit etwa 170 000 überwiegend kurdischen Einwohnern im Nordwesten Irans, wurde verkündet, dass die Polizei die Kontrolle über die Straßen der Stadt verloren habe.

Laut Aktivist*innen vor Ort wurden innerhalb von drei Tagen, vom 17. bis 19. November, mindestens 29 Protestierende in kurdischen Städten erschossen oder erschlagen. In Mahabad haben die Sicherheitskräfte nicht nur das Internet massiv eingeschränkt, sondern in den Stadtteilen, in denen die Protestierenden die Oberhand hatten, den Strom abgeschaltet. Das bestätigte der Parlamentsabgeordnete der Stadt in einem Interview mit der Tageszeitung »Ham-Mihan«. Die Sicherheitskräfte hätten auf Läden und Häuser geschossen und Geschäftsvitrinen eingeschlagen. In einem Brief habe er den nationalen Sicherheitsrat gebeten, »geduldiger mit der Bevölkerung und den Protestierenden umzugehen«.

Die Lage in Kurdistan hat große Sorgen, aber auch Wut unter anderen Bevölkerungsgruppen ausgelöst. In sozialen Medien tauschen sich die Nutzer*innen darüber aus, wie sie an anderen Orten die Kurd*innen unterstützen können. Eine von ihnen ist Paria*, die an der Teheraner Universität Literatur studiert: »Dass man nicht nur auf die Protestierenden, sondern blind auf die Wohnungen schießt, zeigt, dass jedes Haus zu einer Festung des Widerstands geworden ist«, sagt sie in einem Gespräch über den Kurznachrichtendienst Signal. Paria ist überzeugt, die Sicherheitskräfte würden den Druck auf Kurd*innen nur dann mindern, wenn man sie auch an anderen Orten beschäftige, damit sie sich nicht mit voller Kraft auf Kurdistan konzentrieren können. Daher hat sie vor, am Montagabend im Stadtzentrum von Teheran auf die Straße zu gehen.

Die Erschießung eines zehnjährigen Jungen am 15. November in Izeh, einer Kleinstadt im Südwesten, hat zu großer Empörung geführt, auch unter denen, die sich bisher den Protesten nicht angeschlossen hatten. Zuerst haben die staatsnahen Medien versucht, den Vorfall als terroristisch zu bezeichnen und die Protestierenden dafür verantwortlich zu machen. In Izeh sowie in der Hauptstadt Teheran haben die Behörden große Plakate mit Porträts des Zehnjährigen namens Kian Pirfalak aufhängen lassen. Doch auf der Beerdigung hat die Mutter, die bei der Schießerei dabei war, deutlich gemacht, dass die uniformierten Spezialkräfte auf ihren Sohn geschossen hätten. Die Öffentlichkeit glaubt den Erzählung der anwesenden Mutter und nicht der staatlichen Version.

Geäußert haben sich auch prominente Gesichter des Landes, etwa Oscar-Gewinner Asghar Farhadi, der in den letzten Monaten mehrmals für sein zurückhaltendes Verhalten gegenüber der Islamischen Republik kritisiert wurde. Farhadi postete ein Porträt von Kian Pirfalak auf seiner Instagram-Seite und schrieb: »Das Blut dieser reinen Kinder wird euch heimsuchen.« Noch härter reagierte die prominente Schauspielerin Hengameh Ghaziani, die ein Video von Protesten postete und den Staat für die Ermordung von Kindern scharf kritisierte. Daraufhin nahm die Staatsanwaltschaft gegen sie Ermittlungen auf.

Am nächsten Tag postete die 52-Jährige ein Video von sich selbst auf offener Straße, während sie ihr Haar hinten zu einem Pferdeschwanz zusammenbindet, eine Geste, die in den letzten zwei Monaten zum Zeichen der Revolution geworden ist. Kurz darauf meldete die staatliche Nachrichtenagentur Isna Ghazianis Festnahme. Der Vorwurf: Propaganda gegen das Regime und Maßnahmen gegen die nationale Sicherheit.

Am selben Tag wurde auch Katajun Riahi festgenommen, eine andere prominente Schauspielerin, die sich bereits an den ersten Protesttagen ohne Kopftuch gezeigt hatte und in Interviews mit Exil-Medien den Staat kritisierte. In den letzten Tagen haben Dutzende Kulturschaffende ihr Kopftuch abgelegt.

Eine weitere Eskalation der Proteste versucht das islamische Regime durch juristische Maßnahmen gegen die Inhaftierten zu verhindern. Laut Menschenrechtsorganisationen wurden bisher 21 Personen mit Vorwürfen angeklagt, die womöglich zu einer Todesstrafe führen können. Mindestens sechs Todesurteile sind bereits ausgesprochen worden. Der Vorwurf lautet entweder »Muhariba« (Krieg gegen Gott) oder Korruption auf Erden. Die Urteile fielen nach nur einem oder maximal zwei Verhandlungstagen, ohne dass die Angeklagten Zugang zu ihren gewünschten Anwälten hatten. Angesichts der überhasteten Gerichtsprozesse ist kaum von einem fairen Verfahren zu sprechen.

Auch in Täbris, der größten Stadt Irans mit aserbaidschanischer Bevölkerungsmehrheit, gehen Tausende jeden Tag auf die Straße – einer massiven Festnahmewelle zum Trotz. Die 30-jährige Sanaz* geht auch abends auf die Straße und sagt in einem Telegram-Chat: »Der Gedanke, dass wir dabei sind, eine Veränderung zu schaffen, uns zu befreien und die Rechte, die uns 44 Jahre lang entzogen wurden, zurückzuerhalten, begeistert mich, auch wenn es mich das Leben kosten könnte.« *Name von der Redaktion geändert

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