- Politik
- NS-Erinnerungspolitik
Der lange Weg zum würdigen Erinnern
Beim umstrittenen Gedenken an die Opfer der NS-Militärjustiz im sächsischen Torgau ist ein versöhnliches Ende in Sicht
Im Sommer 2017 sagte Ludwig Baumann einen tieftraurigen Satz. Der damals 95-Jährige war Vorsitzender der Bundesvereinigung Opfer der Wehrmachtsjustiz. Als junger Mann war er aus der Wehrmacht desertiert. Er habe »diesen Krieg nicht mehr mitmachen« und »keine Leute töten« wollen. Seine Flucht misslang jedoch. Er wurde von NS-Militärrichtern zum Tode verurteilt, saß zehn Monate in der Todeszelle, kam nach einer Abmilderung des Urteils in ein Konzentrationslager und war schließlich bis Sommer 1944 in einem Wehrmachtsgefängnis in Torgau inhaftiert. Jahrzehnte später kämpfte er um ein würdiges Gedenken an die Opfer der Militärjustiz, die zu dem Zeitpunkt allesamt hochbetagt waren. 2017 aber erklärte er resigniert, es sei »nicht zu erwarten, dass auch nur eines der Opfer« eine angemessene Würdigung in Torgau, »an diesem zentralen Ort der Verfolgung«, erleben wird. Im Juli 2018 starb er.
Im Herbst 2022 sitzt Elisabeth Kohlhaas in einem Büro im Torgauer Schloss Hartenfels. Auf der einen Seite geht der Blick in den Schlosshof mit barockem Prunk und einer Wendeltreppe aus Sandstein; auf der anderen Seite fließt vor den Fenstern die Elbe. Es ist ein idyllischer Ort, an dem indes an eine grauenvolle Geschichte erinnert wird. Torgau, sagt die Politikwissenschaftlerin Kohlhaas, »war das Zentrum der Wehrmachtsjustiz im besetzten Europa«. In der Stadt gab es mit Fort Zinna und der Haftanstalt Brückenkopf zwei große Gefängnisse. Diese durchliefen im Laufe des Krieges 60 000 Häftlinge: Soldaten der Wehrmacht, Dienstverpflichtete aus dem besetzten Europa, Zivilisten, Widerständler. Ihnen wurde Fahnenflucht vorgeworfen, Verrat, Spionage oder »Wehrkraftzersetzung«. Manche wurden an Ort und Stelle hingerichtet, andere nach der Haft in Torgau an die Front geschickt: auf Himmelfahrtskommandos in Strafbataillonen, die, wie Kohlhaas sagt, »aufgeschobene Todesstrafen« waren. Die Urteile fällten Kriegsgerichte, deren oberstes 1943 aus Berlin nach Torgau verlegt wurde. NS-Militärgerichte verhängten insgesamt 50 000 Todesurteile, von denen 20 000 vollstreckt wurden. Zum Vergleich: Im Ersten Weltkrieg gab es 150 Todesurteile; 48 wurden vollstreckt.
Derlei Fakten erfährt man in einer Ausstellung eine Etage höher. Die Schau mit dem Titel »Spuren des Unrechts« wird vom Dokumentations- und Informationszentrum (DIZ) Torgau betrieben, dessen Leitung Kohlhaas im Sommer übernahm. Sie existiert seit 2004. Auf eng beschriebenen Tafeln und mit vielen, oft winzigen Fotos wird die Rolle der Militärjustiz im NS-Staat dargestellt; eines Systems, das Hitlers Diktum durchsetzen sollte, wonach man »an der Front sterben kann, aber als Deserteur sterben muss«. Geschildert werden die Struktur der Gerichtsbarkeit oder die Tagesabläufe in den Torgauer Gefängnissen; auch einige Biografien von Opfern sind zu lesen, etwa die von Gustav Heistermann von Ziehlberg. Der Offizier, der bereits im Ersten Weltkrieg gedient und 1943 in Italien einen Arm verloren hatte, sollte nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 einen Beteiligten festnehmen. Weil er ihn entwischen ließ, wurde er zunächst wegen »fahrlässigen Ungehorsams« zu neun Monaten Haft verurteilt. Hitler intervenierte. Das Gericht verhängte daraufhin wegen »Ungehorsams im Felde« die Todesstrafe, die auch vollstreckt wurde.
Wer zuvor wenig über diesen Teil der Geschichte wusste, erlebt die Ausstellung wohl als lehrreich, auch wenn ihre Gestaltung nicht zum Betrachten einlädt: Sie sei »aus der Zeit gefallen«, räumt Kohlhaas ein. Ludwig Baumann und seine Mitstreiter empfanden sie indes als Hohn und Relativierung ihres Leids. Augenfälligster Grund: Auf der Ausstellungsfläche von ohnehin bescheidenen 230 Quadratmetern geht der Abschnitt zur NS-Militärjustiz nahtlos und unvermittelt in einen gleich großen Teil über, der den sowjetischen Speziallagern ab 1945 und dem DDR-Strafvollzug gewidmet ist. »Ganz banal gesprochen: Der Ausstellungsteil über die Zeit nach 1945 ist genau so groß wie der zu unserer Zeit«, sagt der Historiker Rolf Surmann, der in der Bundesvereinigung gemeinsam mit anderen das Erbe Baumanns fortsetzt.
Die räumliche Aufteilung ist kein Zufall, sondern nach Überzeugung der Bundesvereinigung Ausdruck eines sächsischen »Sonderwegs« in der Erinnerungspolitik. Dabei wurde lange nicht zwischen NS-Verbrechen und späterem Unrecht differenziert; Nationalsozialismus, sowjetische Besatzung und DDR galten gleichermaßen als Diktaturen, die sich allenfalls in Nuancen unterschieden. Die Prämisse war im sächsischen Gedenkstättengesetz festgeschrieben und drückte sich im Wirken der Stiftung Sächsische Gedenkstätten aus, unter deren Dach auch das DIZ Torgau arbeitet. Die Unwucht bei der Aufarbeitung unterschiedlicher historischer Epochen illustrieren die Gedenkorte Bautzen und Torgau. Laut einer Vereinbarung zwischen Sachsen und dem Bund von 1999 sollte in Bautzen der Schwerpunkt auf die Zeit ab 1945 gelegt werden, was eindrücklich geschah: Eine Ausstellung zur Rolle des Gefängnisses in der NS-Zeit wurde erst 2018 eröffnet. In Torgau sollte der Hauptakzent auf der NS-Zeit liegen – was bis heute missachtet wird.
In Sachsen mündete der »Sonderweg« 2004 in einem beispiellosen Eklat: NS-Opferverbände beendeten ihre Mitarbeit in den Gremien der sächsischen Gedenkstättenstiftung. Erst, nachdem das Gedenkstättengesetz 2012 überarbeitet worden war, endete diese »Periode der Beschämung«, wie die damalige SPD-Wissenschaftsministerin Eva-Maria Stange formulierte. In Torgau aber setzte sie sich fort. Zwar hatten sich schon 2011 alle Beteiligten geeinigt, dass die Ausstellung überarbeitet werden soll. Ein 2015 beschlossenes Eckpunktepapier sprach klar von einer »Schwerpunktsetzung auf Torgau als Zentrale der NS-Militärjustiz«. Doch danach hakte es bei der Beantragung von Geld ebenso wie bei der inhaltlichen Arbeit. Ende 2017 verloren Baumann und seine Kameraden das Vertrauen; sie kündigten die Mitarbeit auf und sprachen von »erinnerungspolitischem Versagen«.
Seither steht in den Ausstellungsräumen in Schloss Hartenfels die Zeit still. Die aus der Zeit gefallene Schau ist unverändert zu sehen – eine Schau, die jenseits der unangemessenen Raumaufteilung auch eklatante Lücken aufweist, sagt Rolf Surmann. So kämen unrühmliche Kapitel wie die fortgesetzte Diskriminierung der angeblichen »Deserteure« und »Wehrkraftzersetzer« in der Bundesrepublik nicht zur Sprache. Ludwig Baumann berichtete, er sei nach Kriegsende als »Verräter« beschimpft und von ehemaligen Kameraden sowie Polizisten verprügelt worden. Viele Betroffene litten darunter und zerbrachen psychisch. Baumann wurde Alkoholiker, vertrank sein Erbe und fing sich erst wieder, als er sich nach dem Tod seiner Frau allein um sechs Kinder kümmern musste. Elisabeth Kohlhaas fügt an, das Leid finde oft nicht einmal mit dem Tod der unmittelbar Betroffenen ein Ende: »Das setzt sich in den Familien fort.« Eine Rehabilitierung dieser Opfergruppe und die Aufhebung der NS-Urteile beschloss der Bundestag erst 2002. Dass dieses beschämende Kapitel der Nachkriegsgeschichte in Torgau mit keinem Wort erwähnt wird, sei mehr als unbefriedigend, räumt Kohlhaas ein: »Es ist keine Frage, dass wir da der gesellschaftlichen Debatte hinterherhinken.«
Das trifft spiegelbildlich auch auf die Frage zu, wie der Umgang mit den Tätern nach 1945 dargestellt wird. »Deutschland hatte immer Probleme damit, Schuldige klar zu benennen«, sagt Surmann: »Man schob wenigen Leuten die Verantwortung zu.« Das gilt für die Vernichtungspolitik der Nazis, Euthanasie, Zwangsarbeit oder den Umgang mit Kriegsgefangenen, zeigt sich aber auch beim Blick auf die Militärjustiz. Eine Besonderheit ist dabei, dass lange Zeit zwar SS oder SA als verbrecherische Organisationen galten, die Wehrmacht aber als »sauber«. Ihre Reihen zu verlassen, galt nicht als Zeichen von Widerstand. Erst mit den Ausstellungen über die »Verbrechen der Wehrmacht« ab 1995 änderten sich dieses Bild in der Öffentlichkeit.
Für NS-Militärrichter bedeutete das, dass sie nach 1945 kaum Konsequenzen zu befürchten hatten. Im DIZ Torgau wurde eine Datenbank mit biografischen Angaben zu 2000 der insgesamt rund 3000 Militärrichter erarbeitet. Verurteilt wurde von diesen nach Ende der NS-Diktatur kein einziger. In der DDR tauchten sie ab, in der Bundesrepublik blieben sie »vollkommen unbehelligt« und machten in den allermeisten Fällen sogar Karriere, sagt Kohlhaas. Der Ex-Marinerichter Hans Filbinger, der Todesurteile gefällt hatte, brachte es bis zum Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg. Dass er 1978 zurücktreten musste, lag eher an fehlendem Unrechtsbewusstsein, das sich in dem Satz offenbarte: »Was damals rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein.« Auch dieses Kapitel wird in Torgau bislang nicht erwähnt. Dass sich das ändert, sagt Surmann, sei »für uns ein ganz wichtiger Punkt«.
Fünf Jahre nach dem öffentlich vollzogenen Bruch stehen die Chancen nicht schlecht, dass es dazu kommt. Zum einen wird in Schloss Hartenfels wieder intensiv an einer Neugestaltung der Ausstellung gearbeitet, nachdem personelle Engpässe und Corona zwischenzeitlich dafür gesorgt hatten, dass selbst die Bildungsarbeit in der Ausstellung zum Erliegen kam und diese öffentlich kaum noch wahrgenommen wurde. Seit die neue Leiterin ernannt und ein wissenschaftlicher Mitarbeiter eingestellt wurde, kam auch die konzeptionelle Arbeit wieder in Gang. Ende 2023, verspricht Kohlhaas, »wird die neue Dauerausstellung mit Sicherheit eröffnet«.
Vieles deutet zudem darauf hin, dass dies auch im Einvernehmen mit der Opfervereinigung geschieht, die 2017 das Handtuch warf. Auslöser für den Sinneswandel war nicht zuletzt eine Personalie an der Spitze der sächsischen Gedenkstättenstiftung. Dort beendete eine geschichtsvergessene Äußerung von Geschäftsführer Siegfried Reiprich im Frühjahr 2021 dessen Amtszeit, die NS-Opferverbände als »verlorenes Jahrzehnt« bezeichneten. Reiprich hatte die Schieflage der Erinnerungspolitik im Alltag der Stiftung fortgeführt, etwa durch unausgewogene Vergabe von Fördermitteln. Zudem warfen ihm Ehrenamtliche und Mitarbeiter schlechte Kommunikation und Führungskultur vor. Ein Konflikt wie in Torgau war mit ihm nicht beizulegen.
Seit April 2021 ist der Historiker Markus Pieper neuer Geschäftsführer. Zu dessen Anliegen gehören ein verbessertes Arbeitsklima, eine Rückkehr der sächsischen Stiftung und ihrer Gedenkstätten in den nationalen und internationalen Diskurs und nicht zuletzt die Aussöhnung mit den NS-Opferverbänden. Man wolle »verloren gegangenes Vertrauen« zurückgewinnen und »jahrelang abgerissene Gesprächsfäden wieder aufnehmen«, heißt es. Surmann registriert ein »großes Interesse, uns wieder einzubinden«, und verbesserte »Umgangsformen«. Es werde ein »teils neuer Zugang zu kontroversen Fragen gesucht«, lobt er. Zur neuen Dauerausstellung in Torgau gab es eine Videokonferenz, sagt der Wissenschaftler; geplant sei ein Treffen in Torgau. Surmann ist freilich anzumerken, dass die Verletzungen der Vergangenheit nachwirken. »Die Stiftung ist kooperativ«, sagt er: »Abzuwarten bleibt, was das inhaltlich bedeutet.«
Vieles, was Kohlhaas über die in Vorbereitung befindliche Dauerausstellung berichtet, deckt sich mit den Wünschen der Bundesvereinigungen. Es werde ein »klarer Schwerpunkt« auf die NS-Militärjustiz gesetzt. Während bisher deren Institutionen im Mittelpunkt stünden, wolle man künftig Geschichte »aus der Perspektive der Häftlinge und Opfer« erzählen, von Menschen, die »aus Mut und Zivilcourage an einem Punkt Nein gesagt und etwa Befehle verweigert haben«. Neben Soldaten der Wehrmacht könnten dazu auch Menschen aus anderen Teilen Europas gehören. Auch der Umgang mit Opfern und Tätern nach 1945 werde angemessen dargestellt: »Diese Leerstellen der jetzigen Ausstellung wollen wir dringend füllen.«
Ein heikles Thema ist auch der Umgang mit den sowjetischen Speziallagern. Deren Insassen werden bisher in Torgau vor allem als Opfer dargestellt. In einem Gedenkort vor dem Tor des bis heute als Justizvollzugsanstalt dienenden Gefängnisses Fort Zinna, bei dessen Eröffnung es 2010 deshalb zum Eklat kam, wird etwa der »unschuldig Verurteilten nach 1945« gedacht. Weil Militärrichter nie zur Verantwortung gezogen wurden, fallen auch sie in diese Kategorie. Kohlhaas betont, Insassen der Speziallager seien teils willkürlich verhaftet worden; diese seien auch Instrumente zur »Durchsetzung einer neuen Diktatur« gewesen. Zugleich sei »ganz klar«, dass dort auch NS-Täter gesessen hätten, was deutlich benannt werden müsse: »Da braucht es einen differenzierteren Blick als bisher.«
All das klingt nach deutlicher Akzentverschiebung. Offen ist bisher, wie sie praktisch umgesetzt wird. Das erste »Drehbuch« der neuen Schau durchläuft gerade die Gremien der Stiftung, sagt Kohlhaas. Anfang 2023 soll die bisherige Schau geschlossen werden und der Aufbau der neuen beginnen. Ihre Eröffnung könnte durchaus auch mit Billigung der Bundesvereinigung erfolgen. Sind damit also alle Verletzungen geheilt? Nein, sagt Rolf Surmann und erinnert an den traurigen Satz von Ludwig Baumann: »Keiner der direkt Betroffenen erlebt das noch. Was war, kann nicht ungeschehen gemacht werden.« Elisabeth Kohlhaas bedauert das zutiefst, aber will auch nach vorn schauen: »Die Geschichte der NS-Militärjustiz wird bundesweit in keiner Gedenkstätte so breit und tief dargestellt werden wie in Torgau.«
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.