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Die Türkei positioniert sich neu im Nahen Osten

Regierung in Ankara droht weiter mit einer Bodenoffensive in Nordsyrien. Kurden suchen Unterstützung in Washington

  • Cyrus Salimi-Asl
  • Lesedauer: 6 Min.

Gegen die anhaltenden türkischen Luftangriffe gehen die Menschen in den Kurdengebieten Nordsyriens nun auf die Straße. Tausende Kurden protestierten in der Stadt Qamischli, auch gegen eine von der Türkei angedrohte Bodenoffensive, wie ein Fotograf der Nachrichtenagentur AFP am Sonntag beobachtete. Die Demonstrierenden schwenkten kurdische Flaggen und zeigten Fotos von Menschen, die bei den Angriffen getötet worden waren. Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit Sitz in Großbritannien wurden bei den Angriffen bislang mindestens 63 Menschen getötet. Bei der Demonstration waren auch Porträts von Abdullah Öcalan zu sehen, dem in der Türkei in Haft sitzenden Chef der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Zudem skandierten die Menschen Parolen gegen den türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdoğan.

»Der Wille des kurdischen Volkes wird nicht gebrochen werden. (…) Wir werden unser angestammtes Land nicht verlassen«, sagte die Demonstrantin Siham Sleimane gegenüber AFP. »Wir sind Opfer einer Ausrottung«, meinte Salah Al-Din Hamu, der ebenfalls an der Protestaktion teilnahm. Seit rund einer Woche geht die Türkei mit einer »Klauenschwert« getauften Luftoffensive gegen kurdische Kräfte in Syrien und im Irak vor. Nach dreitägiger Pause bombardierten türkische Kampfjets am Sonntagmorgen kurdisch kontrollierte Gebiete nördlich von Aleppo, wie die Beobachtungsstelle weiter mitteilte. Bei einem türkischen Drohnenangriff in der Nähe von Tal Rifaat, ebenfalls im Norden von Aleppo, wurden laut der Beobachtungsstelle fünf syrische Soldaten getötet. Demnach gab es einen Schusswechsel zwischen kurdischen Kämpfern und türkischen Streitkräften sowie ihren syrischen Verbündeten in der Region.

Mit äußerst sanfter Kritik am völkerrechtswidrigen türkischen Vorgehen hat die US-Regierung versucht, die türkischen Militäroperationen in Syrien einzuhegen, doch lässt Präsident Erdogan sich nicht beirren: Die Operation »Klauenschwert«, gestartet am 20. November mit Luft-, Artillerie- und Drohnenangriffen auf kurdisch kontrollierte Städte in Nordsyrien, habe gerade erst begonnen – ein Hinweis darauf, dass er möglicherweise bald Bodentruppen entsenden wird.

Die syrischen Kurden hoffen nun auf das Einschreiten der US-Regierung. Ilham Ahmed vom Syrischen Demokratischen Rat, dem politischen Arm der von den USA unterstützten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) im Nordosten Syriens, habe an Außenminister Antony Blinken geschrieben und die Regierung aufgefordert, sich energisch gegen eine mögliche türkische Invasion auszusprechen, wie die Nachrichtenwebseite »Al-Monitor« erfahren haben will. Im Brief, der Dienstag vergangener Woche verschickt wurde, hat sich der Vorsitzende des SDF-Exekutivkomitees demnach besorgt gezeigt, dass die Türkei mit ihrem drohenden Einmarsch neues syrisches Land besetzen wolle.

Große Hoffnungen in ein entschiedenes Vorgehen der Regierung in Washington dürfte er jedoch kaum haben. Das US-Verteidigungsinisterium zeigte sich am Mittwoch laut Pressesprecher Pat Ryder zwar »zutiefst besorgt« über die eskalierenden Angriffe, nannte aber nicht einmal die Verantwortlichen. Am Freitag seien sogar zwei Raketen auf dem US-Militärstützpunkt in Al-Schaddadi im Nordosten Syriens eingeschlagen, berichtete der TV-Nachrichtensender Al-Jazeera. Das US Central Command (Centcom) machte jedoch keinerlei Angaben dazu, wer hinter dem Raketenbeschuss stand.

Der türkische Staatspräsident Erdoğan sucht Vergeltung für das Bombenattentat in Istanbul von vor zwei Wochen. »Die Schurken werden für ihre verräterischen Angriffe zur Rechenschaft gezogen«, schrieb das türkische Verteidigungsministerium in einem Tweet, in dem die Militäroperation angekündigt wurde. Erklärtes Ziel ist weiterhin, eine Pufferzone im Norden Syriens zu errichten, wohl um dort einen Teil der syrischen Geflüchteten anzusiedeln, die in der Türkei leben, und so das Bevölkerungsgleichgewicht zwischen Arabern und Kurden zu verschieben. Dieser Plan ist auch den Kurden bekannt. So war auf der Demonstration am Wochenenende ein Transparent mit Aufschrift in arabischer Sprache zu sehen: »Nein zur demografischen Verschiebung«.

Im Visier hat Erdoğan die mehrheitlich kurdischen Städte Tell Rifaat, Manbidsch und Ayn Al-Arab. Die türkischen Streitkräfte würden so in direkten Konflikt mit den von den USA unterstützten SDF geraten. Während die SDF der wichtigste Partner der USA im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) in Syrien sind, betrachtet Erdoğan sie als einen Arm der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).

Erdogan macht die PKK für den Bombenanschlag in Istanbul am 13. November verantwortlich, bei dem sechs Menschen getötet und mehr als 80 verletzt wurden. Sowohl die PKK als auch militante syrische Kurden wiesen jegliche Verantwortung für den Anschlag zurück. Vergangenen Mittwoch erklärte Erdoğan, dass er die Bemühungen des Westens, die SDF/PYD/YPG von der PKK zu unterscheiden, nicht mehr hinnehme. »Von jetzt an können wir es nicht mehr dulden, dass uns jemand mit dieser Lüge kommt«, sagte er.

Die neuerlichen Luftangriffe und die erwartbare Bodenoffensive sind Teil einer strategischen Neuausrichtung der Türkei in der Region – nicht zuletzt mit Blick auf die Wahlen im Juni, bei denen Erdoğan seine Macht verlieren könnte. Er sagte am Donnerstag, die Türkei könne nach den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen eine neue Seite in den Beziehungen mit Ägypten und Syrien aufschlagen. »Wir können die Beziehungen zu den Ländern, mit denen wir Probleme haben, neu bewerten«, sagte er Reportern, die ihn zum G20-Gipfel nach Indonesien begleitet hatten. Der innenpolitische Druck auf Ankara, die Beziehungen zu Damaskus zu verbessern, wächst. Die Öffentlichkeit sieht die fast vier Millionen syrischen Flüchtlingen im Land immer häufiger als unliebsame Gäste. Die dramatische Wirtschaftskrise spitzt die sozialen Gegensätze weiter zu. Auch mit Ägypten scheinen sich die Beziehungen zu verbessern. Erdoğan weigert sich jedoch nach wie vor, Ägyptens Präsident Abdel Fattah Al-Sisi zu treffen, für Kairo eine Grundvoraussetzung zur Wiederherstellung der Beziehungen.

Die Linkspartei hat die Bundesregierung aufgefordert, die türkischen Angriffe auf Kurden in Syrien und im Nordirak klar zu verurteilen. »Wenn die Türkei ihre Angriffe nicht einstellt, müssen Waffenlieferungen in die Türkei gestoppt werden«, verlangte Linken-Parteichef Martin Schirdewan am Montag in Berlin. Der Bundesregierung warf Schirdewan eine unklare Haltung vor. Zwar habe auch sie die türkischen Angriffe als völkerrechtswidrig eingestuft, Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) habe bei ihrem Besuch in Ankara jedoch die türkische Seite lediglich zu einem Vorgehen mit Augenmaß aufgefordert. Schirdewan: »Soll die Türkei jetzt mit Augenmaß das Völkerrecht brechen?«

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