Wenn Ärzte Vorurteile pflegen

In den 90ern stecken geblieben: HIV-positive Menschen erfahren im Berliner Gesundheitswesen Diskriminierung

  • Nora Noll
  • Lesedauer: 6 Min.
Isoliert und als Gefahr markiert: Obwohl HIV gut behandelt werden kann, gelten HIV-positive Menschen oftmals als Aussätzige. Die Angst sitzt tief und befördert eine Kultur der Scham.
Isoliert und als Gefahr markiert: Obwohl HIV gut behandelt werden kann, gelten HIV-positive Menschen oftmals als Aussätzige. Die Angst sitzt tief und befördert eine Kultur der Scham.

Zwei Pflegekräfte haben die Mini-Snickers erspäht. »Wir wollten mal schauen, ob es etwas gratis gibt«, sagt der junge Mann in Krankenhaus-Blau und bleibt mit seiner Kollegin stehen. »Dann müsst ihr zuerst ein Quiz machen«, erwidert Tomas Panesso Gomez. Der Arzt steht im Eingangsbereich des Vivantes-Krankenhauses in Friedrichshain hinter einem Infotisch. Darauf: Schokoriegel, rote Ansteckschleifen und Flyer mit Informationen zum Human Immunodeficiency Virus – HIV. Zum Welt-Aids-Tag am vergangenen Donnerstag hat sich seine Abteilung der Infektiologie auf die übrigen Vivantes-Standorte verteilt, um das dortige Personal zu sensibilisieren. Denn nach wie vor erleben HIV-positive Menschen massive Diskriminierung im Gesundheitswesen – laut einer Studie der Deutschen Aidshilfe von 2021 berichteten bundesweit 56 Prozent der Befragten von mindestens einer »negativen Erfahrung« innerhalb eines Jahres.

Die erste Quizfrage lautet: Müssen HIV-positive Menschen isoliert werden? »Nein«, sagen beide Pfleger*innen. Richtige Antwort. Doch immer wieder behandeln medizinische Fachkräfte Patient*innen mit HIV wie akute Seuchenherde. Egal, ob sie sich ein Bein gebrochen haben, sich ein Loch im Zahn füllen lassen oder zur Vorsorge-Untersuchung kommen – sobald ihr HIV-Status standardmäßig abgefragt wird, müssen sie mit Ungleichbehandlung rechnen.

Caroline Isner arbeitet als Chefärztin in der Infektiologie des Auguste-Viktoria-Klinikums. Regelmäßig erreichten sie Anrufe von anderen Stationen mit der Frage, ob ein HIV-positiver Patient isoliert werden müsse. »HIV-Positive berichten mir, dass sie wie hoch kontagiöse Patienten behandelt werden«, erzählt sie. Das fange bei einer gewissen Distanz an und reiche bis zu Stigmatisierung: »Es gab Vorfälle, wo ihnen das Essen nicht ins Zimmer gebracht, sondern vor der Tür abgestellt wurde.«

Selbst eine unbehandelte Infektion mit dem Human Immunodeficiency Virus ist nicht einfach so übertragbar. Um sich vor einer Schmierinfektion zu schützen, braucht es offensichtlich keine Isolation oder Berührungsangst. Aber auch HIV-positive Menschen in Therapie werden wie eine Gefahr behandelt. »Wir haben den Eindruck, die Bevölkerung und auch das medizinische Personal sind in der Aufklärung der 90er Jahre stecken geblieben«, so Isner. Mittlerweile erlaubt die medikamentöse Therapie mit der täglichen Einnahme einer Tablette oder einer Injektion alle zwei Monate in den Gesäß-Muskel ein Leben ohne Beeinträchtigung. Die Viruslast fällt unter die Nachweisgrenze. »Dann sind Sie nicht mehr ansteckend, können Kinder bekommen, haben die gleiche Lebenserwartung. Es ist wie hoher Blutdruck geworden: eine chronische Erkrankung, aber wenn Sie die Medikamente nehmen, ist alles gut.«

Das ist eigentlich nichts Neues. Bereits 1996 wurde mit der sogenannten Dreifach-Kombination eine Behandlungsmethode entdeckt, die das Virus unterdrücken und gleichzeitig die Nebenwirkungen auf ein kaum mehr spürbares Level minimieren konnte. »Ich habe in den 90ern studiert, aber das ist völlig an meiner Generation vorbeigegangen«, sagt Isner. Sie vermutet Vorurteile vor allem bei der älteren Generation, die von den Schrecken der Aids-Pandemie geprägt wurde. Die Handhabe der Stationsleitung könne dann auf die Jüngeren abfärben.

Und das passiert anscheinend in erschreckendem Ausmaß: Aus der Umfrage »Positive Stimmen 2.0« der Deutschen Aidshilfe geht hervor, dass bei jeder dritten Person der knapp 1000 Befragten der HIV-Status in der Krankenakte markiert wurde – ein Vorgang, der weder notwendig noch erlaubt ist. 21 Prozent der Befragten erhielten einen besonderen Behandlungstermin, 17 Prozent wurden unangebrachte Fragen zum Hintergrund der Infektion gestellt, 10 Prozent wurde eine Gesundheitsleistung verweigert.

Christoph lebt seit 17 Jahren mit HIV. Bei der Frage nach diskriminierenden Erfahrungen im Gesundheitswesen denkt er spontan an einen Zahnarztbesuch: Als Neupatient musste er ein Formular ausfüllen, er sollte auch über etwaige HIV-Tests und das Ergebnis Auskunft geben. Christoph kreuzte »positiv« an. »Die Arzthelferin war dann ganz verwirrt und meinte: ›Positiv im Sinne von gut, weil negativ?‹« Als er verneinte, war sein Gegenüber geschockt: »Sie haben also Aids?«

Aids ist die Autoimmunerkrankung, die eine unbehandelte HIV-Infektion auslösen kann. Christoph lacht über die Anekdote, mittlerweile geht er offen mit seiner Infektion um. Doch er weiß, welchen Schaden solche Reaktionen anrichten können – vor allem wenn sich Betroffene ohnehin schämen. »Du solltest dich bei einem Arzt aufgehoben fühlen. Wenn deine HIV-Infektion wie eine Gefahr hervorgehoben wird, ist das ein Schlag in die Magengrube.«

Zahnarztpraxen gelten laut Christoph oft als besonders heikle Orte. »Obwohl die ja dasselbe medizinische Grundstudium durchlaufen, ist das ein bisschen der Klassiker.« So wurde etwa einem Freund von ihm nur der letzte Termin am Tag angeboten – mit der Begründung, dass Gerätschaften und Praxis nach der Behandlung extra gereinigt werden müssten. »Dabei sollten die bei allen Patienten gleich gut gereinigt werden«, so Christoph. Wo es keine medizinisch sinnvolle Erklärung gibt, vermutet Christoph deshalb tief sitzende Vorurteile.

Zugleich betont der 36-Jährige, wie gut sich die Versorgungslage in Berlin entwickelt hat. Als Mitbegründer von Pro Plus Berlin vernetzt er sich mit HIV-positiven Menschen in ganz Deutschland. Während es in der Großstadt genug HIV-Schwerpunktärzte gibt, die ihre Patient*innen bei anderweitigen Gesundheitsthemen an HIV-sensible Praxen weitervermitteln können, sieht es auf dem Land schlecht aus. »Ich kenne Menschen, die fahren eineinhalb Stunden zu ihrem Arzt«, erzählt Christoph.

Doch auch in Berlin fallen Menschen durchs Netz. Die Zahlen des Robert-Koch-Institutes zeigen: Ende 2021 lebten in Deutschland 90 800 Menschen mit HIV, schätzungsweise 8600 von ihnen ohne Diagnose. Ein Drittel der 1800 neuen Fälle wurde erst mit einem »fortgeschrittenen Immundefekt«, also bereits entstandenen gesundheitlichen Schäden entdeckt; bei fast jeder fünften Infektion kam die Diagnose erst mit dem Ausbruch von Aids.

Warum Betroffene ihre Infektion spät oder gar nicht entdecken, kann unterschiedliche Gründe haben. Stefan Zschage arbeitet im Checkpoint Berlin, einer medizinischen und psychosozialen Beratungsstelle für sexuell übertragbare Krankheiten. Er denkt zum einen an die rund 60 000 Menschen, die ohne Krankenversicherung in Berlin leben und allein aus Angst vor den möglichen Behandlungskosten bei einer Erkrankung keinen HIV-Test machen. Er denkt an mehrfach diskriminierte Menschen wie Sexarbeiter*innen, Menschen ohne Pass, queere Personen oder BIPoc (Schwarze, Indigene und People of Color), die vor Arztbesuchen zurückscheuen. Und er denkt an Menschen, die sich eine Infektion nicht vorstellen können oder wollen: Heterosexuelle, monogame Menschen, Frauen.

Der Checkpoint versuche, für all diese Menschen ein sicherer Ort zu sein. »Aber es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, das nur gesamtgesellschaftlich gelöst werden kann.« Der medizinische Leiter der Einrichtung, Christoph Weber, ergänzt: »Der Umgang mit HIV ist ein Spiegel der Gesellschaft, wie wir mit Sexualität und mit Nicht-Perfektheit umgehen. Konservative Kräfte wollen keine niedrigschwellige Behandlung für alle. Es gibt diese Vorstellung, dass der sexuelle Trieb von der Krankheit gedeckelt werden muss. Das ist sexnegativ, homofeindlich und einfach erzkonservativ.« Anstatt sich mit HIV auseinanderzusetzen, würden manche Ärzt*innen seiner Erfahrung nach lieber ihre Ressentiments pflegen.

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