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Marokkos Reise geht weiter
Als erste afrikanische Mannschaft in der Geschichte der Fußball-WM erreicht das Überraschungsteam das Halbfinale
Als Walid Regragui und Yassine Bounou später auf dem Podium der Pressekonferenz saßen, wirkte ihr Auftritt beinahe wie eine Wiederholung, wie ein Déjà-vu. Wie schon nach dem Achtelfinalsieg gegen die spanische Mannschaft durften Marokkos Trainer mit der markanten Glatze und sein Torwart mit dem Spitznamen Bono bei bester Laune erneut von einem historischen Weltmeisterschafts-Erfolg erzählen.
Diesmal ging es um den 1:0-Sieg im Viertelfinale gegen Portugal und den Einzug in die Runde der letzten Vier, in der am Mittwoch der Titelverteidiger Frankreich als nächster Gegner wartet. Doch um die sportlichen Aspekte ihres historischen Erfolges, als erste afrikanische Mannschaft in der WM-Geschichte in ein WM-Halbfinale vorgestoßen zu sein, ging es bei Regragui und Bono eher nebenbei. Vor allem sprachen sie davon, dass sie noch mehr wollen bei diesen Titelkämpfen in Katar. Trainer Regragui spannte den Bogen in einer Mischung aus Pathos und Philosophie zum Leben insgesamt und was in diesem alles möglich sei, wenn man es nur wolle und viel dafür tue. »Wir zeigen, was man erreichen kann, auch wenn man nicht das größte Talent oder das meiste Geld hat, aber bereit ist, hart zu arbeiten«, sagte der 47-Jährige nach dem nächsten Coup im Al-Thumama-Stadion von Doha. Er findet: »Das ist eine große Botschaft an die Welt.« Und die Welt, ergänzte er, sei nun mit Marokko.
Am Samstag war sie das offenbar, und auch das Glück hatte Marokko in manch einer Situation auf seiner Seite. Wie beim Kopfballtor von Youssef En-Nesyri in der 42. Minute, als sich Portugal gleich mehrere Fehler erlaubte, einschließlich den von Torwart Diogo Costa, der sich beim Herauslaufen verschätzte. Zugleich aber hatte Marokko mit einer wieder einmal beeindruckenden Organisation und Laufbereitschaft in der Defensive die Grundlage für den nächsten Coup gelegt. Immer entnervter wirkten die Portugiesen, weil die Marokkaner den ballführenden Spieler ständig aggressiv anliefen und Fehler provozierten.
Was die Marokkaner mit ihrem Außenseiter-Stil gerade vollbringen, ist eine der außergewöhnlichsten Leistungen der jüngeren Fußballgeschichte. Die Ironie ist, dass sich ihre anrührende Geschichte vom Kleinen, der die Großen reihenweise überlistet, bei dieser WM in Katar entfaltet. Bei jenem Turnier, in das mehr Geld gepumpt worden ist als in alle vorherigen Weltmeisterschaften zusammen, und in dem die Kommerzialisierung des Fußballs eine neue Dimension erreicht hat.
Wegen ihrer Spielweise legt Trainer Regragui Wert darauf, die Erfolge seiner Mannschaft nicht als Märchen oder dergleichen zu verklären. »Es ist kein Wunder«, betonte er und erinnerte an die bisherigen Ergebnisse gegen die vier europäischen Topteams Kroatien, Belgien, Spanien und Portugal, an ein Unentschieden und drei Siege, einer davon im Elfmeterschießen. Und das alles ohne Gegentor. »Das ist das Ergebnis harter Arbeit«, sagte er. »Hingabe, Leidenschaft und Glauben« seien ganz wichtig, zudem müsse man träumen, findet Regragui, und genau das habe er seinen Spielern von Anfang an vermittelt. Er nutzt die Psychologie gezielt, auch jetzt. Er entwirft beispielsweise das Bild, dass Marokkos Team der Rocky Balboa der WM sei, weil es sich von unten nach oben kämpfe wie jener Boxfilmheld.
Es soll nicht der letzte Sieg gewesen sein. Vielmehr wollen die Marokkaner ihre erstaunliche Reise durch das Turnier fortsetzen, am Mittwoch im zweiten Halbfinale. Dass dort der Weltmeister wartet, kann sie nicht schrecken. So vermittelt Regragui das jedenfalls. »Mittlerweile fühlen wir uns quasi unschlagbar«, sagt er und setzt noch einen drauf: »Wer Weltmeister werden will, muss jeden schlagen.« Also auch den Titelverteidiger.
Regragui spricht schon länger davon, dass der Titelgewinn möglich sei. Langsam glauben nicht nur seine Spieler daran, dass offenbar nichts unmöglich ist für diese marokkanische Mannschaft, die gerade von einem Novum zum nächsten eilt, trotz immer neuer Blessuren und Ausfälle. Auch viele Menschen in Afrika, im arabischen Raum und darüber hinaus sind längst mitgerissen worden von dieser beinahe unglaublichen Geschichte. Zu Tausenden waren aus Marokko Menschen nach Doha gereist, um ihre Mannschaft zu unterstützen.
Manches erinnert an Griechenlands ähnlich erstaunliche Reise zum Europameistertitel 2004. Allerdings mit dem Unterschied, dass sich die Griechen damals mit ihrem deutschen Trainer Otto Rehhagel und dessen eher antiquierten Stilmitteln durch das Turnier kämpften, unter anderem mit einem Libero. Die Marokkaner gehen es taktisch moderner an und auch spielerisch filigraner.
Ihre Geschichte und die Geschichte der Griechen verbindet aber, dass beide Mannschaften als krasse Außenseiter ins Turnier gestartet waren und dann von einem Erfolg zum nächsten getragen wurden. Auch Marokko schafft das dank des großen Teamgeistes, der bemerkenswert stabilen Defensive und des starken Torwarts Bono. In allen fünf Turnierspielen hat Marokko erst einen Gegentreffer kassiert – durch ein Eigentor beim 2:1 gegen Kanada. Man habe durch die Erfolge »das Gefühl der Minderwertigkeit« abgelegt, sagt Bono. Manchmal, räumte der Torwart ein, staune auch er. »Kneif mich, ich glaube, ich träume«, sagte er nach dem Sieg über Portugal. Sie hoffen, dass sie nicht plötzlich unsanft geweckt werden. Auch nicht von Frankreich.
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