• Kultur
  • Studie »Ver-Kleiden«

Kostümgeplauder

Barbara Vinkens Reflexionen über Kleidung und Geschlecht reproduzieren die postmodernen Ideologien, die die Autorin mit Recht kritisiert

  • Magnus Klaue
  • Lesedauer: 6 Min.
High Heels: Ausdruck von repressiver Rollenzuschreibung, lustvoller Aneignung derselben oder des authentischen Selbst?
High Heels: Ausdruck von repressiver Rollenzuschreibung, lustvoller Aneignung derselben oder des authentischen Selbst?

In der britisch-französischen Komödie »Mrs. Harris Goes to Paris«, die vergangenen Sommer in die Kinos kam, spielt Lesley Ann Manville die Londoner Putzfrau Ada Harris, deren Ehemann im Zweiten Weltkrieg umgekommen ist und die ihren Lebensunterhalt durch Arbeit für erfolglose Schauspielerinnen bestreitet. Seit der Auszahlung einer Witwenrente spart sie jeden verfügbaren Penny, um sich den Traum zu erfüllen, ein für sie angefertigtes Kleid von Christian Dior zu erwerben. Als sie ausreichend Geld zusammen hat, fliegt sie nach Paris, wo sie in Diors Modehaus durch ihren kleinbürgerlichen Habitus Anstoß erregt, aber dank ihrer praktischen Gesinnung auch Sympathien gewinnt. Sie ermutigt die Scheiderinnen und Arbeiter, für bessere Entlohnung einzutreten, und einen jungen Angestellten Diors, diesem seine Pläne zur Modernisierung des Modehauses vorzustellen. Außerdem animiert sie den jungen Mann, einer Kollegin, in die er verliebt ist, seine Gefühle zu gestehen. Wie viele Kitschstreifen aus den fünfziger Jahren, in denen die Handlung angesiedelt ist, hat der Film ein eher resignatives Happy End.

Der junge Angestellte erhält einen Führungsposten, gewinnt das Herz der Geliebten und dankt Mrs. Harris, indem er ihr den Wunsch nach ihrem Lieblingskleid erfüllt, während die Putzfrau in den Kreis ihrer Londoner Freunde und Nachbarn zurückkehrt. Ihr Traum hat sich erfüllt, an der Enge ihres Lebens aber hat sich nichts geändert. Mehrfach wird Mrs. Harris in dem Film von wohl- wie auch von übelmeinenden Personen gefragt, was sie bei sich zu Hause mit einem Kleid von Dior anfangen möchte, und tatsächlich wirkt sie, als sie am Ende damit auf einem Tanzabend erscheint, ungelenk und verkleidet. Die Aura des Kostüms bedarf, um erstrahlen zu können, eines bestimmten gesellschaftlichen Verhaltens, das sich imitieren, aber nicht wirklich erlernen lässt. Indem Mrs. Harris dies erkennt, fügt sie sich halb versöhnt, halb desillusioniert in die karge Realität, an der auch der Besitz eines Dior-Kleides nichts ändern kann.

Kleidung als eine Form sozialen Handelns und als Ausdruck ökonomischer Hierarchien zu analysieren sowie die Möglichkeiten auszuloten, durch den Gebrauch von Mode gesellschaftliche Verhältnisse zu unterlaufen, ist seit mehr als zwanzig Jahren eine Lieblingsbeschäftigung der Kulturwissenschaften. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als Soziologen und Historiker wie Thorstein Veblen, Georg Simmel, Eduard Fuchs und Werner Sombart das Phänomen der Mode systematisch zu erschließen begannen, erschien ihre Beschäftigung noch eher als wissenschaftliche Skurrilität. Seit den achtziger Jahren aber ist die Theorie der Mode, befördert durch die Rezeption der Habitus-Theorie Pierre Bourdieus sowie durch die Zweite Frauenbewegung – der von Silvia Bovenschen herausgegebene Band »Listen der Mode« versammelte 1986 Texte zur Mode seit dem 19. Jahrhundert – zu einer Sparte der Kulturwissenschaften geworden. Diese Reflexion der Mode knüpft an Veblen und Simmel darin an, dass sie die Mode als Ausdruck gesellschaftlicher Zwänge ebenso wie als Versuch deutet, Phantasien zu artikulieren, die solche Zwänge überschreiten.

Die sich auf die US-Philosophin Judith Butler beziehende Queer Theory unterscheidet sich von solchen Modetheorien darin, dass der immanente Widerspruch der Mode von ihr eingeebnet wird. Anders als die Moderne überschätzt die Postmoderne ebenso den normativen Charakter von Mode-Images, wie sie auch das subversive Potenzial der Mode überbewertet: Mit Kleidern, Verkleidung und Performance soll gleichsam der Teufel heteronormativer Rollenmuster ausgetrieben werden. Das spielerische Moment der Mode, das weder in Geschlechterstereotypen noch in Strategien politischer Subversion aufgeht, gerät dabei aus dem Blick. Die Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken, die in ihren modetheoretischen Überlegungen eher an Bovenschen als an Butler anknüpft, beschreibt dieses Manko in ihrer Studie »Ver-kleiden« anschaulich. Ihre Kritik pointiert sie in der These, die Queer Theory betrachte Sexualität als »Bekenntnisform«, der es statt um die Widersprüchlichkeit des Sexus um das als transparent vorgestellte »Geschlecht der Seele« gehe. Dieser Anspruch wirke sich auf die Bedeutung aus, die der Mode in der Queer Theory zukomme.

Während Mode in der Epoche der Moderne, exemplarisch bei Proust und Baudelaire, den »Reiz« menschlicher Sexualität bekräftige und steigere, indem sie Habitus und Gestus der Individuen nicht nur als soziale Rollen, sondern als widersprüchliche und verführerische Formen des Selbstausdrucks auffasst, artikuliere sich in der Queer Theory eine regelrechte »Angst vor Nicht-Identität«. Denn obwohl die Vertreter der Queer Theory für sich in Anspruch nähmen, Identitätszwänge zu unterlaufen, pflegten sie selbst eine Verherrlichung partikularer Identitäten, die die Individuen tendenziell noch stärker als die bürgerliche Geschlechterordnung darauf verpflichte, auch körperlich mit ihrem jeweiligen Selbstgefühl identisch zu sein. Idealbild der Queer Theory sei, so Vinken, der »zurechtgeschnittene« Körper, der dadurch, dass jede Erinnerung an die erste Natur aus ihm getilgt sei, den Erfordernissen neoliberaler »Selbstoptimierung« besonders gut entspreche. Trotz solcher richtigen Kritik weiß Vinken aber bei deren Formulierung selbst auf kaum etwas anderes zurückzugreifen als auf das Repertoire postmoderner Denk- und Schreibweisen.

Deutlich wird das, wenn sie bei ihrer Darstellung der »Befreiung« der Mode im Zuge der Französischen Revolution und ihrer Kritik an Jean-Jacques Rousseaus Modekritik, die moderne Mode als »Inbegriff des Dekadenten« denunzierte, immer wieder in das gleiche abstrakte kulturwissenschaftliche Vokabular zurückfällt, das sie eigentlich hinter sich lassen möchte. Ihre Beschreibung der veränderten Geschlechter-Performances im nachrevolutionären Frankreich leitet sie mit den bezeichnenden Worten ein: »Bleiben wir hier beim Holzschnittartigen … Gegen markierte Sexualität bei den Frauen steht nunmehr unmarkierte bei den Männern. Was uns bis gestern als die natürlichste Sache der Welt erschien, entstand erst mit der Kleiderordnung der Moderne. Genderneutral hatten sich die Männer vor der Revolution und besonders die adligen Männer sicher nicht angezogen; prachtvoll prunkvoll stellten sie ihre Männlichkeit unübersehbar herausragend zur Schau.«

Fern gesellschaftlicher Empirie bleibt auch Vinkens historische Skizze zur Mode der Moderne, in deren Darstellung sie sämtliche Ressentiments der Postmoderne, die sie zu Beginn kritisiert, einfach wiederholt: Frauen figurieren demnach seit Anbruch der bürgerlichen Gesellschaft qua Mode als sexuell »markiert« (Kostüme, Röcke, Dekolletés), Männer dagegen als »neutral« (Anzüge, Hosen, gedeckte Farben). Gegenüber der Dichotomie von »sachlicher« Männer- und »phantasievoller« Frauenmode erscheint die geschlechterübergreifende Üppigkeit adliger Selbstrepräsentation im Feudalismus als weniger normativ. Inwiefern es bei solcher Üppigkeit, die die Sinnlichkeit für eine rigide soziale Distinktion in Dienst nahm, überhaupt um einen Ausdruck von Sexualität ging, fragt Vinken nicht. Deutlich wird die Befangenheit in der von ihr selbst kritisierten Postmoderne auch darin, dass sie bei ihrer Deutung der Mode der Moderne ständig über »Markierungen«, aber nur selten über spezifische Inszenierungen von Geschlechtlichkeit spricht.

Dass die Einbeziehung konkreter Beobachtungen und Erfahrungen der Schärfung der Kritik gedient hätte, zeigt der Blick auf eine Autorin, die Vinken nicht berücksichtigt, obwohl ihr Werk kanonisch für die Theorie der Mode ist: In den Büchern »Mode. Schule der Frauen« (2007) und »Alle meine Kleider. Arbeit am Auftritt« (2015) hat es die Literaturwissenschaftlerin Hannelore Schlaffer unternommen, die moderne »Markierung« des weiblichen Körpers durch die Mode als einen Zugewinn an individueller und gesellschaftlicher Freiheit zu beschreiben, den die Frauen sich aneignen statt als Ausdruck repressiver Rollenmuster verdammen sollten. Weil Vinken der Kulturtheorie gegenüber der Empirie den Vorrang lässt und sich anders als Schlaffer für Mode als Gegenstand lustvoller affektiver Besetzung, wie sie auch die gesellschaftstheoretisch unbeschlagene Ada Harris erfahren kann, kaum interessiert, zerfasert ihre Physiognomie der Moderne letztlich in Plaudereien und verliert den Fortschritt aus den Augen, den die Entdeckung der Mode in der bürgerlichen Gesellschaft bedeutet hat.

Barbara Vinken: Ver-kleiden. Was wir tun, wenn wir uns anziehen. Residenz-Verlag, 96 Seiten, br., 19 €

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