Schein von Demokratie

Nach dem Putsch des Präsidenten im Juli 2021 sollen die Tunesier am Samstag ein neues Parlament wählen

  • Mirco Keilberth, Tunis
  • Lesedauer: 5 Min.

Bei einer Fahrt durch die Straßen von Tunis deutet am Freitagvormittag nichts darauf hin, dass Tunesien am Folgetag wieder zu einer parlamentarischen Demokratie wird. Am 25. Juli letzten Jahres hatte Präsident Kais Saied über Nacht die Regierung abgesetzt und die Parlamentarier in den Zwangsurlaub geschickt. Die damals dramatisch hohen Covid-Infektionszahlen und die Untätigkeit der Parlamentarier trotz hoffnungslos überfüllter Krankenhäuser hatten Präsident Saied zu dem Putsch veranlasst. Er sehe die nationale Sicherheit in Gefahr und müsse das Land von den egozentrischen politischen Parteien befreien, die nur im Eigeninteresse, aber nicht zum Wohle des Staates handeln würden, so Saied in seiner Fernsehansprache.

Anders als es viele ausländische Beobachter erwarteten, gingen nur Minuten später im ganzen Land die Menschen jubelnd auf die Straße. Der 2019 überraschend wegen seiner offensichtlichen Unbestechlichkeit gewählte Juraprofessor hatte einen Nerv getroffen. Gegen die grassierende Korruption in den Behörden und die stetig steigenden Lebenshaltungskosten hatte keine der zehn verschiedenen Regierungen der letzten elf Jahre etwas ausrichten können. Schon die Aura der Unbestechlichkeit und sein Quereinstieg in die Politik reichte vielen Tunesiern, um Saied das Vertrauen zu schenken.

Doch seit dem Putsch äußert sich der meist Hocharabisch sprechende Jurist selten zu den drückenden Problemen der Bürger. Um über ein Drittel sind einige Lebensmittel in den letzten Monaten teurer geworden, Milch oder Kaffee waren eine Zeit lang aus den Supermarktregalen verschwunden. Auch als sich vor den Tankstellen im Herbst lange Schlangen bildeten und die Stimmung zu kippen drohte, zog sich Saied in seinen Palast im Stadtteil Karthago zurück und meldete sich ab und zu über Facebook mit Verschwörungstheorien.

»Der Staat ist eben pleite«, sagt der Gemüsehändler Mohamed Hamed vor seinem Gemüsestand im Stadtteil Lafayette. Er hat davon gehört, dass am Samstag gewählt wird, und ist eigentlich ein Anhänger von Kais Saied. »Aber meine Umsätze sind um die Hälfte gesunken, ich habe genug von Politikern.«

Über 1000 Kandidaten bewerben sich an diesem Samstag um einen der Sitze in der neu geschaffenen ersten Kammer des Parlaments. Nach der Verabschiedung einer neuen Verfassung in diesem Sommer und der damit verbundenen Wahlrechtsreform treten dieses Mal nur Einzelkandidaten an. Politische Parteien sind nach der Abschaffung von Parteilisten ausgeschlossen und dürfen die Kandidaten nicht finanziell unterstützen. Saied setzt damit sein im Wahlkampf stets offen angekündigtes Projekt einer Basisdemokratie um. In den Jahren vor seiner Wahl war er mehrere Jahre mit einem Team von Aktivisten durch die Provinzen getourt, um gegen die 2011 entstandenen Parteien zu wettern und für ein Parlament von lokalen Repräsentanten zu werben.

Die meisten von Saied als korrupt oder als Lobbygruppen für Geschäftsleute diffamierten politischen Parteien lehnen die Abstimmung ab und kritisieren die zunehmende Machtfülle des Präsidenten. Denn die zwei Kammern des Parlaments sollen zwar stärker als bisher die vernachlässigten Provinzen repräsentieren, haben jedoch nur eine beratende Funktion. Die Rolle des Präsidenten wurde hingegen mit der von Saied persönlich geschriebenen Verfassung nach französischem Vorbild gestärkt.

»Das neue Parlament wird nur dazu dienen, dem Putsch von Kais Saied einen legitimen Anstrich zu geben«, kritisiert Abir Moussi, Parteichefin der derzeit landesweit beliebtesten Partei: die säkular-nationalistische Freie Destour-Partei. Andere Politiker wie der Präsident der liberalen Partei Afek Tunis werden wegen ominöser Ermittlungen der Staatsanwaltschaft daran gehindert, das Land zu verlassen. Rached Ghannouchi, dessen Vater die moderate Islamisten-Partei Ennahda gegründet hat, wirft die Staatsanwaltschaft vor, zusammen mit einer radikalen Gruppe Anschläge auf Sicherheitskräfte geplant zu haben.

Von den politischen Spannungen ist im Alltag allerdings nichts zu spüren. Die Mehrheit der Tunesier ist angesichts der Wirtschaftskrise und der seit dem Ukraine-Krieg gestiegenen Lebensmittelpreise damit beschäftigt, finanziell über die Runden zu kommen.

Saied hofft, der Wahl in den verarmten Gebieten Tunesiens dadurch Legitimität zu verschaffen, dass sie an einem symbolischen Datum stattfindet: Der 17. Dezember markiert den Beginn des sogenannten Arabischen Frühlings. An jenem Tag im Dezember 2011 hatte sich der Tunesier Mohamed Bouazizi mit Benzin übergossen und angezündet. Kurz zuvor hatten Polizisten Gemüse konfisziert, von dessen Verkauf der 27-Jährige und seine Eltern lebten. Über Bouazizis fehlende Genehmigung zum Verkauf seiner Ware auf dem Markt von Sidi Bousid hätten die Beamten gegen die Zahlung eines kleinen Bestechungsgeldes wie üblich hinweggesehen. Doch diesmal weigerte Bouazizi sich zu zahlen. Die Empörung über den alltäglichen Machtmissbrauch von Behörden in einer tunesischen Kleinstadt fegte schließlich die Langzeitregime in Tunesien, Ägypten und Libyen innerhalb eines Jahres hinweg.

Der Wille zum Kompromiss mit dem politischen Gegner wurde 2015 mit dem nach Tunesien vergebenen Friedensnobelpreis belohnt. Gewerkschaften, der Arbeitgeberverband, die Menschenrechtsliga und Rechtsanwälte hatten einen drohenden Bürgerkrieg verhindert. Die Marke »Leuchtturm des Arabischen Frühlings« hat dem 12-Millionen-Einwohner-Land danach immer wieder üppige Zuwendungen aus Europa oder von der Weltbank gesichert.

Organisationen wie die deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) sind mit großen Missionen im Land und unterstützen den Übergangsprozess zur Demokratie sowie den Umbau der an sowjetische Zeiten erinnernden Wirtschaft. Doch nach der Terrorwelle der Islamisten fließen die üppigen Kredite indirekt auch in die Kassen des Innenministeriums und der bürokratischen Elite. In keinem anderen Sektor sind seit der Revolution so viele neue Jobs entstanden, wurden die Löhne so stark erhöht. Viele Tunesier haben daher für den Titel »Vorzeigeland des Arabischen Frühlings« kein Verständnis. Für sie hat die Demokratie nur noch mehr Korruption und steigende Preise gebracht.

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