Pekings verheimlichte Todeswelle

In Chinas Hauptstadt ist die Corona-Pandemie derzeit außer Kontrolle

  • Fabian Kretschmer, Peking
  • Lesedauer: 4 Min.

Dieser Tage fühlt sich Peking wie eine regelrechte Zeitmaschine an: Wie zu Beginn der Pandemie sind die Straßen der Hauptstadt erneut gespenstisch leer. Und genau wie damals haben auch die offiziellen Regierungsinformationen offenbar ihren Bezug zur Realität verloren: So meldete die nationale Gesundheitskommission am Freitag keinen einzigen Corona-Toten. Mehr noch: Seit der Öffnung des Landes Anfang Dezember ist laut den Statistiken niemand an Covid verstorben.

Dass die staatlichen Statistiken wenig glaubwürdig sind, liegt auf der Hand. Doch wie hoch die Dunkelziffer an Corona-Toten genau ist, lässt sich nach jetzigem Stand kaum seriös einschätzen. Ein erster prominenter Fall, der gut dokumentiert ist, wurde diese Woche selbst von den Parteizeitungen aufgegriffen: Der ehemalige Fußballspieler Wang Ruoji, der bereits seit längerem an Diabetes litt, ist nach seiner Corona-Infektion mit nur 37 Jahren verstorben. Auch er taucht nicht in den Statistiken auf.

Erstmals haben nun Reporter der »Financial Times« ein Schlaglicht auf die wahren Ausmaße der Pekinger Corona-Welle geworfen. Mehrere Reporter der britischen Tageszeitung haben sich in den letzten Tagen sowohl in den Covid-Spitälern als auch in den Krematorien der Stadt umgeschaut. Was sie sahen, deutet auf eine signifikante Übersterblichkeit hin: Die Bestattungsinstitute würden derzeit ein Vielfaches an Leichen beerdigen als sonst für die Saison üblich, viele seien »Corona-positiv« vermerkt. Die Mitarbeiter eines Krematoriums berichten zudem, sie würden derzeit bis nachts um zehn Uhr in Betrieb sein.

Die holländische Tageszeitung »Volkskrant« berichtet von ähnlichen Zuständen. Sie zitiert einen Pekinger Bestatter mit den Worten: »Wegen Covid ist diese Woche die Nachfrage viel höher. Wir haben bereits jetzt keinen Platz mehr.« Und laut Radio Free Asia ist die Warteliste für einen Termin bei den Pekinger Krematorien auf über sechs Tage angestiegen.

In den nächsten Wochen werden wohl weitere solche Enthüllungsberichte folgen. Doch derzeit ist es vor allem das Virus selbst, welches Recherchen im Feld unmöglich macht: Genau wie die meisten Pekinger ist auch das Gros aller Korrespondenten derzeit mit Corona-Symptomen in Heimisolation. Oder, wie es Stephen McDonell von der BBC auf seinem Twitter-Account formuliert: »Es ist schwer, jemanden in der Stadt zu finden, der sich in den letzten Wochen nicht mit Covid angesteckt hat.«

In nur wenigen Tagen ist die chinesische Hauptstadt von einer nahezu uneinnehmbaren »Null Covid«-Festung mit rigiden Lockdowns zum weltweiten Corona-Hotspot avanciert. Die Öffnung erfolgte nicht nur plötzlich, sondern auch vollkommen unvorbereitet: Nach wie vor sind Selbsttests und fiebersenkende Medikamente auf dem freien Markt ausverkauft; und auch in den Krankenhäusern haben sich große Teile des Personals infiziert.

Der Grund für Pekings radikale Kehrtwende ist vielfältig: Einerseits wurde der öffentliche Druck, der in landesweiten Protesten gipfelte, immer größer. Gleichzeitig waren die wirtschaftlichen Indikatoren für dieses Jahr katastrophal. Der schlussendliche Auslöser könnte jedoch ein trivialer gewesen sein: Wie der Epidemiologe Mike Ryan von der Weltgesundheitsorganisation WHO am Mittwoch sagte, habe sich die derzeitige Covid-Welle in China bereits lange vor der Öffnung zusammengebraut. Die Regierung habe also einsehen müssen, dass sie trotz der rigiden Maßnahmen eine weitere Ausbreitung nicht mehr hätte stoppen können.

Wie viele Personen in den nächsten Wochen und Monaten an Covid sterben werden, versuchen Forscher in unterschiedlichen Modellreichungen zu prognostizieren. Eine aktuelle Studie der Universität Hongkong geht von knapp einer Million Toten aus – es sei denn, die Senioren würden zeitnah eine vierte Booster-Impfung erhalten und hätten Zugang zu ausreichend Medikamenten. Doch beides scheint derzeit utopisch: Zwar werden derzeit bereits über 200 000 Impfspritzen täglich verabreicht, doch auch das ist nach wie vor zu wenig.

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