Repression der violetten Front

Journalistinnen leben in Mexiko besonders gefährlich

  • Moritz Osswald, Mexiko-Stadt
  • Lesedauer: 5 Min.
Journalisten protestieren in Mexiko-Stadt gegen die Ermordung von Pressevertretern.
Journalisten protestieren in Mexiko-Stadt gegen die Ermordung von Pressevertretern.

Es war eine dieser Meldungen, die einen ungläubig vor dem Bildschirm festhalten. Ende August vergangenen Jahres ging ein Aufschrei durch die Hörsäle der Nationalen Autonomen Universität Mexikos (Unam). Der damalige Leiter des Forschungsinstituts für Ästhetik, Iván Ruiz García, hatte zwei Monate zuvor in einem Interview mit dem Uni-Radio erklärt, Femizide seien »ein Akt der Liebe« und hätten »eine sehr leidenschaftliche Komponente«, so der Wissenschaftler damals.

Feminismus in Mexiko hat noch eine lange Wegstrecke vor sich. Auch ein Doktortitel schützt nicht vor Misogynie. Eine besonders vulnerable Gruppe sind Journalistinnen. Das bestätigt erneut ein kürzlich erschienener Bericht der feministischen Nachrichtenplattform Cimac (Comunicación e Información de la Mujer). In der Region Lateinamerika und Karibik sei Mexiko nach Brasilien das gefährlichste Land für Frauen: 978 registrierte Femizide im Jahr 2021 – laut offiziellen Zahlen. Der Bericht »Worte der Straflosigkeit: Stigmatisierung und Gewalt gegen Journalistinnen 2019–2022« wirft ein Schlaglicht auf die Probleme, mit denen weibliche Medienschaffende zu kämpfen haben; Probleme, die männliche Kollegen nicht haben. Mitfinanziert wurde der Bericht von der Österreichischen Botschaft, der Heinrich-Böll-Stiftung, dem Global Fund for Women und Brot für die Welt.

Berenice Chavarría Tenorio lebt diese Realität: »Es gibt Kolleginnen, die einen falschen Ehering zu den Treffen mit ihren Quellen tragen, um sexueller Belästigung einen Riegel vorzuschieben«, so die 28-Jährige. Sie ist mit ihrer Kollegin Diana zusammen bei Cimac als Reporterin tätig und schießt heute Fotos. Die Schwedische Botschaft, Cimac, UN Women und die Organisation i(dh)eas laden ein zum Workshop im Nationalen Museum für Weltkulturen, direkt im Historischen Zentrum der Hauptstadt. Journalismus mit Genderperspektive, das steht auf dem Programm. Anwesend sind gestandene Journalistinnen wie Verónica Villegas, eine Regierungsvertreterin und Karin Elfving, schwedische Vizepräsidentin der Organisation Reporter ohne Grenzen.

Grundlegendes wird behandelt: Um was geht es beim Feminismus eigentlich? Wann ist ein Femizid eigentlich ein Femizid – und nicht bloß ein »normaler« Mord? Zumindest darauf gibt es eine konkrete Antwort: In Artikel 325 des mexikanischen Strafgesetzbuches (Código Penal Federal) sind sieben Punkte aufgelistet, die den Femizid vom Homizid (Mord) unterscheiden. Der Workshop soll vor allem die Kolleg*innen der Presse sensibilisieren.

Applaus gibt es für Lucía Lagunes, Leiterin der feministischen Organisation Cimac. Sie spricht klar, auf den Punkt, und hält sich nicht mit diplomatischen Formulierungen zurück. »Die Medien tragen auch eine Schuld«, sagt die Journalistin. Etwa, wenn Gewalt gegen Frauen heruntergespielt, romantisiert werde – oder gar als Akt der Zuwendung, der Liebe stilisiert. Da schweifen die Gedanken unweigerlich zu den Äußerungen des ehemaligen Institutsleiters der Unam, der Frauenmorde als »Akt der Liebe« mit einer »leidenschaftlichen Komponente« sieht. Doch auch in Deutschland glänzt die Presse selten mit sensibler Berichterstattung, sondern eher mit fragwürdigen Etikettierungen wie »Beziehungsdrama« oder »Familiendrama«, wenn es um Femizide geht. Die schärfste Kritik gilt jedoch dem Präsidenten. Der selbst ernannte Linke Andrés Manuel López Obrador hat sich für den Schutz der Frauen in Mexiko vor allem durch Nichtstun hervorgetan.

Das frisch erschienene Cimac-Dossier attestiert dem Amtsträger eine vernichtende Bilanz. Um Fort- oder Rückschritte zu dokumentieren, verglichen die Journalistinnen die ersten drei Jahre der vorherigen Regierung unter Enrique Peña Nieto mit den ersten drei Jahren der aktuellen Administration López Obrador. Von 248 zu 767 Aggressionen gegenüber weiblichen Journalistinnen bedeutet das einen Anstieg von über 209 Prozent im Vergleichszeitraum. Budgetkürzungen für Initiativen und Hilfsprogramme für Frauen und Kinder werden im Bericht ebenso kritisiert.

Lucía Lagunes kritisiert den Präsidenten, der sich durch die »Stigmatisierung von Journalistinnen und Journalisten« und dessen »Verleumdungskampagnen« der Presse gegenüber charakterisiere. Erst vergangene Woche machte Ciro Gómez Leyva, eines der bekanntesten kritischen Mediengesichter des Landes, ein Attentat gegen ihn publik. Zwei Männer auf einem Motorrad schossen mehrmals direkt auf das Auto, das er fuhr, rund 200 Meter von seinem Wohnort entfernt. Gómez Leyva überlebte das Attentat. Staatschef López Obrador sagte lediglich zwei Tage zuvor – öffentlich – dass es »schädlich für die Gesundheit« sei, Berichterstatter*innen wie Gómez Leyva zuzuhören. Man könnte »einen Gehirntumor« davon bekommen.

Pressefeindliche Statements, das Stigmatisieren, Exponieren unliebsamer Journalist*innen, die nicht auf Regierungskurs berichten: Hass und Hetze kommen oft von oberster Stelle. In den Morgenkonferenzen, die Präsident AMLO von Montag bis Freitag abhält, gibt es ab und an eine Sektion mit dem Titel »Wer ist Wer?«. Die Kommunikationsabteilung des Präsidenten präsentiert dann einzelne Medienschaffende, die nach Ansicht der Regierung unwahre Informationen verbreiten. Fact-Checking ist das allerdings nicht, sondern ein öffentlicher Pranger für Journalist*innen.

Im Cimac-Dossier wird dieser harsche Widerspruch auf den Punkt gebracht: »Die Situation verschärft sich zudem, wenn die Institutionen mit dem Auftrag, die Menschenrechte zu schützen, Teil der Gewaltstruktur sind.« Ohne dieses Detail ist die massive Gewalt gegen die Presse in Mexiko nicht zu verstehen. Ein erheblicher Teil der Aggressionen wird direkt von staatlichen Stellen verursacht. Am meisten Repression erfährt die Berichterstattung über feministische Proteste.

Einen Höhepunkt der Eskalation erreichte die Repression am 9. November 2020 in Cancún. Nach dem Femizid an der 20-jährigen Alejandrina Lorenzana Alvarado gingen Aktivistinnen und Journalistinnen auf die Straße. Im Cimac-Bericht schildert Cecilia Solís Martín ihre Erfahrung. Dieser Tag sei »ein Wendepunkt« für die Journalistin gewesen. »Ich habe Demonstrationen von Taxifahrern, Lehrern, religiösen Gruppen, eine Unzahl an gewaltsamen Situationen gesehen, aber nichts von dieser Tragweite. Nie wurde der Befehl gegeben, Schusswaffen einzusetzen.« Während Solís Martín ihrer journalistischen Arbeit nachging, bekam sie einen Schuss in den rechten Fuß ab.

Die massive Repression feministischer Proteste ist ein weiteres Zeugnis der extremen patriarchalen Strukturen im Land. Der Präsident selbst hält die feministische Bewegung für »sehr konservativ« und mutmaßt, sie sei »infiltriert« von »konservativen Gruppen«, um seiner Regierung zu schaden.

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