• Kultur
  • Bahnstrecke durch Seevetal

Volk gegen Unterwanderung

Kurios: Im niedersächsischen Seevetal wird der Aufstand geprobt – allerdings nicht gegen den von Zigmillionen Autos verursachten Lärm, sondern gegen eine harmlose Bahnstrecke

  • Fritz Tietz
  • Lesedauer: 6 Min.
Ist die Idylle Seevetals (im Bild: Untere Seeveniederung) von einer Bahnstrecke bedroht?
Ist die Idylle Seevetals (im Bild: Untere Seeveniederung) von einer Bahnstrecke bedroht?

Das Maschener Kreuz und das Horster Dreieck dürften namentlich um einiges bekannter sein als die niedersächsische Ortschaft Seevetal, in deren geografischer Mitte die beiden monströsen Straßenkreuzungen liegen. Dank dieser kann man die südlich von Hamburg gelegene, sonst aber eher wenig bedeutende Gemeinde auf den Kfz-Pisten A1, A7 und A39 schnellstmöglich durchdüsen – wenn nicht gerade wieder Stau ist, was trotz der bis zu elfspurigen Verkehrsführung aberwitzig oft vorkommt. Selten jedoch staut es sich in alle Fahrtrichtungen zugleich, sodass der von Zigmillionen Autobahnfahrern verursachte Lärmpegel in Seevetal so gut wie nie abreißt. Von den sonstigen Kfz-Emissionen ganz zu schweigen. Die Seevetalerinnen und Seevetaler hätten also längst allen Grund gehabt, auf die Barrikaden zu steigen. Doch denkste! Das Einzige, das hier immerzu stieg, war die Zahl der Kfz-Zulassungen.

In diesem Sommer aber wurde doch plötzlich der Aufstand geprobt – wenn auch nicht gegen den ganz realen Irrsinn der drei Autobahnen, sondern gegen eine virtuelle, weil bisher nur geplante Eisenbahn, die, so die derzeit optimistischste Prognose, vielleicht irgendwann mal das Gemeindegebiet tangieren könnte. Eine zweigleisige Trasse, die den ICE- und Güterverkehr zwischen Hamburg und Hannover deutlich verbessern soll, sagt die Deutsche Bahn. Ein lärmendes Schienenmonster, das »unser schönes Seevetal« zerstören wird, sagen die Seevetaler.

Und so zettelten sie unter der maßgeblichen Rädelsführerschaft ihrer Bürgermeisterin Emily Weede (CDU) einen regelrechten Provinzaufstand gegen die Bahn an. Als oberste Gemeinderepräsentantin und zugleich erste Vorturnerin einer Bürgerinitiative rief die 60jährige, teils mit tatkräftiger Unterstützung des Seevetaler Rathausapparates, zu allerlei Mahndemos, Mahnwachen und Mahnfeuern auf, ließ flächendeckend Mahnkreuze und Mahnplakate aufstellen und agitierte auf etlichen Mahnversammlungen gegen das »unsere Heimat«, »unsere Natur«, »unsere Ruhe« und »unsere Immobilienwerte« angeblich extrem schädigende Bahnvorhaben.

Mit Erfolg! Innerhalb weniger Wochen positionierten sich mehrere Tausend Seevetalerinnen und Seevetaler in mindestens zwei Bürgerinitiativen gegen die Pläne. »Gegen die zukunftsträchtige Entwicklung der Bahn« und »gegen eine Verkehrswende, die diesen Namen verdient«, wie die paar lokalen Befürworter der – so sie stets betonen – auch von unabhängigen Verkehrsexperten als unverzichtbar eingestuften Neubaustrecke bedauern. Nur diese würde es, so die Befürworter, auf Dauer den Fernreisenden aus aller Welt ermöglichen, ihre Ziele in Norddeutschland und Skandinavien zuverlässig mit der Bahn zu erreichen. Auch der schienengebundene Nahverkehr im Landkreis Harburg, zu dem neben den beiden Regionalmetropolen Winsen an der Luhe und Buchholz in der Nordheide auch die Gemeinde Seevetal gehört, würde von den zwei zusätzlichen Gleisen profitieren.

Natürlich, räumen die Befürworter sogar ein, lasse sich so eine Neubaustrecke nicht völlig schmerzfrei realisieren, aber am Ende seien deren Belästigungen für Mensch und Natur um einiges erträglicher als der von … – der Rest geht leider im Lärm der Seevetaler Autobahnen unter. Doch auch wenn der kurz mal ruht, werden diese heimischen Propheten nicht gerne gehört. Ihre von großer Hartnäckigkeit und exzellentem Eisenbahnerwissen getragenen Argumente, platziert vornehmlich in den Kommentarspalten auf den Webseiten der Bürgerinitiativen, fielen deren Admins auf Dauer viel zu bahnfreundlich aus, sodass sie den Neubau-Supportern kurzerhand die Kommentarfunktion sperrten.

Bürgermeisterin Weede bezeichnete sie gar als Trolle, die – so ihre auch via Lokalpresse verbreitete Vermutung – eigens von der Bahn bestellt worden seien, um den Aufstand der Seevetaler zu hintertreiben. Und bekräftigte diesen Verdacht noch, indem sie – ebenfalls wiederholt und öffentlich – von einer auffallend hohen Anzahl von Bahnmitarbeitern berichtete, die sich initiativ bei der Gemeinde beworben hätten. Man könne deshalb, so Emily Weede, von einem Versuch der Infiltration oder Unterwanderung durch die Bahn sprechen.

Zwar steht es der Verwaltungschefin einer 41 000 Einwohner zählenden Gemeinde kaum zu, die Bewerbungslage ihrer Behörde öffentlich zu erörtern, doch lässt ihr bislang völlig unbewiesener Vorwurf erahnen, wie radikal sich der Provinzaufstand noch entwickeln könnte. Und richtig: Man werde selbst für den Fall, dass der Bundestag die Neubaustrecke beschließen sollte, weiter dagegen kämpfen, erklärte Weede auf einer der letzten großen Zusammenkünfte der Bahngegner. Dort ging sogar »von Gewaltakten« gegen die Trasse die Rede – gleichwohl die sonst nicht zimperliche Bürgermeisterin ihre Leute in diesem Punkt ausdrücklich zur Besonnenheit aufrief.

An dem Betretungsverbot, mit dem sie neulich der Deutschen Bahn alle trassenplanerischen Maßnahmen auf gemeindeeigenen Grundstücken untersagte, hält sie aber vorerst ebenso fest wie an ihrer unlängst proklamierten Aufkündigung jedweder Gesprächsbereitschaft mit den Planungsverantwortlichen. Eine, wie’s für ihre Kritiker aussieht, glatte Arbeitsverweigerung, der sich kurz danach auch der Landrat des Landkreises Harburg, Rainer Rempe (CDU), anschloss, indem er und mit ihm etliche Vertreter diverser Heidedörfer, die sich ebenfalls von dem Schienenmonster bedroht fühlen, eine von der Deutschen Bahn anberaumte »kommunale Planungswerkstatt« vorzeitig verließen.

Entlang der vorgesehenen ICE-Trasse, die längs der die Lüneburger Heide bereits brutal durchfurchenden A7 gebaut werden soll, dürften es inzwischen mehr als zwei Dutzend Bürgerinitiativen sein, die auf breiter Front gegen die zeitgemäße Ertüchtigung der Bahn mobilisieren. Gegen die A7 oder die geplanten Neubauten von mehreren Hundert Autobahnkilometern in teils unmittelbarer Umgebung haben sie allerdings nichts. Im Gegenteil: Besagter Landrat Rempe begrüßte die Fortführung der A39 von Lüneburg nach Wolfsburg ganz ausdrücklich. Dass auch Emily Weede für den Bau der A26 zwischen Stade und Hamburg plädiert, muss insofern nicht verwundern, als es sich bloß um eine vierspurige Betonader handelt, die zudem nicht über Seevetaler Gemeindegebiet geführt, sondern nur durch ein paar olle Moore im einstmals malerischen Alten Land geprügelt wird.

Die von den Aufständischen gern bemühte Sorge um die Zerstörung von Umwelt und Landschaften geht offenbar nicht über die Grenzen Seevetals hinaus. Und Infrastrukturen scheinen nur dann als mons- oder desaströs zu gelten, wenn sie seitens der Bahn drohen. Oder von der Stadt Hamburg, deren »verdächtig« expansive Gelüste, sprich: hafenwirtschaftliche Interessen, längst als die eigentlichen Triebkräfte für die sich Bahn brechende Vernichtung Seevetals ausgemacht wurden. Sie lasse jedenfalls nicht zu, dass ihre Gemeinde zum »Industrieklo von Hamburg« werde, ramenterte es in diesem Zusammenhang einmal aus der Bürgermeisterin.

Derweil raunen einige ihrer Mitstreiter ganz unverhohlen von den Hamburger Eliten, die Seevetal samt seinen Insassen, dem »ganz normalen Volk«, den Garaus machen wollten. So wird die zuweilen eh schon arg müffelnde Aufstandsrhetorik um einige vulgärpopulistische Phrasen und antisemitische Klischees bereichert. Was auch für die Verschwörungsmär vom großen Bürgerbetrug gilt, den einige von Weedes Gefolgsleuten – darunter etliche sogenannte Stützen der Gesellschaft aus der gutbürgerlichen Mitte – der Bahn wegen einer anno 2015 angeblich nicht eingehaltenen Zusage anzudichten versuchen.

Der Autor lebt seit rund 25 Jahren in Seevetal.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.