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- "The Most Beautiful Boy in the World"
Der Knabe als Halbgott
Ein schwedischer Dokumentarfilm beleuchtet das traurige Leben von Björn Andrésen, der kindlichen Schönheit aus Viscontis »Tod in Venedig«
Der Dokumentarfilm »The Most Beautful Boy in the World« beginnt mit einer Lüge. Der Lügner ist kein Geringerer als der berühmte Regisseur Luchino Visconti (1906–1976). Er behauptet, Björn Andrésen, die damals 15-jährige, strahlende Schönheit seines Films »Tod in Venedig« (1971) zu finden, sei leicht gewesen. Er habe sich fünf oder sechs Knaben vorstellen lassen, dann sei Andrésen hereingetreten und er habe gewusst: »Der und kein anderer ist es.«
Es ist Visconti selbst, der seine Lüge entlarvt. In seinem unmittelbar vor »Tod in Venedig« entstandenen Kurzfilm »Auf der Suche nach Tadzio« (1970) dokumentiert er seine aufwendige Suche nach dem (neben Dirk Bogarde) zweiten Hauptdarsteller seines Spielfilms. In halb Europa ließ sich der Regisseur nicht etwa fünf oder sechs, sondern Hunderte Jungen vorführen.
Zunächst hielt er sich in seiner Suche eng an die Vorlage, die gleichnamige Novelle von Thomas Mann (1911), die von einem blonden polnischen Zwölfjährigen spricht. Entsprechend erinnern die Knaben, die man in den Castings sieht, an Michel aus Lönneberga (Jan Ohlsson). Andrésen fiel aus dem Schema, er war bereits zu alt und zu groß. Deshalb reiste das Team, nachdem es ihn in Stockholm getestet hatte, noch nach Finnland und Polen weiter. Die Entscheidung für Andrésen traf Visconti erst erheblich später.
»The Most Beautiful Boy« von Kristina Lindström und Kristian Petri zitiert breit aus Viscontis Kurzfilm über das Casting, deckt die Lüge aber nicht auf. Der Grund dafür ist leicht zu erraten: Die Begegnung zwischen dem jungen Andrésen und dem alten Visconti soll zu einer schicksalhaften werden. Wer der Schönheit ansichtig werde, habe dem Tod ins Auge geblickt, fasste Visconti die Aussage seines Films zusammen. Nicht nur der Verehrer des Knaben aus der Novelle und der tatsächlich fünf Jahre später sterbende Regisseur, sondern auch die kindliche Schönheit selbst sollen mit Unglück und Tod geschlagen sein.
Wenn das ebenfalls eine Lüge oder wenigstens eine romantische Sentimentalität ist, sind auch hier diejenigen, die sie verbreiten, dieselben, die sie aufdecken. Lindströms und Petris Film macht deutlich, dass das Leben des Schauspielers und Musikers Björn Andrésen nicht erst seit der Begegnung mit Visconti, sondern von Geburt an, unglücklich verlief. Nur ganz kurz gehen sie auf den erstaunlichen Umstand ein, dass Andrésen eine Hälfte eines »halbbürtigen« Geschwisterpaars ist. Es kommt extrem selten vor, dass bei zweieiigen Zwillingen die Eizellen von zwei Vätern befruchtet werden. Andrésens Halbzwillingsschwester hat also einen anderen Vater als er, und wer sein Vater ist, ist unbekannt. Die künstlerisch begabte, aber zutiefst verzweifelte Mutter nahm sich das Leben, als die Kinder zehn waren.
Als wäre all das nicht ungewöhnlich genug, tritt als ungewöhnlicher Umstand hinzu, dass die Mutter, die unter anderem fotografierte und für das Modehaus Dior Modell stand, das frühe Familienleben in farbigen Schmalfilmen aufgezeichnet hat. Sogar mitgeschnittene Telefongespräche haben sich erhalten. Es ist, als ob die ganze Familie sich von Anfang an darauf vorbereitet hätte, in einer Doku-Tragödie zu enden.
Nach dem Selbstmord der Mutter war es die Großmutter, die den Jungen zum ständigen Posieren und Präsentieren anhielt. Sie war es, die ihn ins Kino-Geschäft brachte, sie war es auch, die ihn drängte, alle Foto-, Film- und Marketingangebote anzunehmen, selbst wenn weite Reisen mit ihnen verbunden waren. Visconti, wohl ein guter Menschenkenner, gab der überglücklichen Großmutter eine Nebenrolle in »Tod in Venedig«.
Visconti ahnte auch, welche Vorwürfe ihm gemacht werden würden. Er wies das Filmteam an, den Jungen nicht anzublicken, geschweige denn, ihn zu berühren. Der Regisseur wiederholte stoisch, aber wenig überzeugend in Interviews, sein Film handele von Schönheit in einem metaphysischen, nicht in einem erotischen Sinn. Lindström und Petri überlassen es verschiedenen Protagonistinnen ihres Films, den Vorwurf der sexuellen Ausbeutung gegen den Regisseur zu erheben.
»Tod in Venedig«, sicher nicht Viscontis bestes Werk, führt immerhin vor Augen, dass die Tragödie erst dann eindringlich wird, wenn sie sich mit der Farce berührt. Ein geachteter Bürger macht sich lächerlich mit einer Liebe, hier derjenigen zu einem Kind – aus einer ähnlichen Konstellation zog schon Josef von Sternbergs »Blauer Engel« (1930) seine Säure.
Viscontis Film hat außerdem den Vorzug, Thomas Manns Geschwätzigkeit durch lange stumme Einstellungen und häufige Zooms zu ersetzen. Deshalb erinnern manche glamourösen Naheinstellungen auf Andrésen nicht nur an den Renaissance-Maler Botticelli, sondern auch an die Starschnitte aus Teenager-Zeitschriften. Andrésen machte die Erfahrungen, von denen etwa der Teenie-Star Leif Garrett in seinem Buch »Idol Truth« (2019) berichtet. Über einige Jahre hinweg ist die junge Schönheit das Futter der Kameras, reiche Pädophile umschwärmen sie ebenso wie ungezählte kreischende Mädchen, und der Höhepunkt des Wahnsinns wird, bei Garrett wie bei Andrésen, in Japan erreicht, wo die lockigen Knaben wie Halbgötter verehrt werden und in die Manga-Fantasie eingehen. Andrésen, ein begabter Pianist, nahm auf Japanisch eine Schnulze auf.
Nachdem der Trubel vorüber war, verfiel Garrett dem Heroin. Andrésen begann mit dem Saufen, als sein Sohn dem plötzlichen Kindstod erlag. Als alter Mann ist er gezeichnet von Suff und Armut, aber in seiner hochaufgeschossen-dürren Statur, mit seiner weißen Mähne und seinen feingliedrigen Händen noch immer eine beeindruckende Erscheinung. Die Filmemacher motzen sein Unglück mit Horrorfilmmusik und visuellen Gags auf, und am Ende fragt man sich, ob Luchino Visconti der einzige Ausbeuter in dieser Geschichte ist.
»The Most Beautiful Boy in the World«: Schweden 2020. Regie: Kristina Lindström, Kristian Petri. Mit Björn Andrésen u.a. 94 Min. Start: 29.12.
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