Der Zauberstab der »weißen Kumpels«

Das Baguette gehört nun zum Unesco-Weltkulturerbe. Ob dies das Bäckereisterben in Frankreich stoppen kann?

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 5 Min.

Außen schön knusprig und innen noch warm, so lieben die Franzosen ihr Baguette. Es gehört zu ihren wichtigsten Nahrungsmitteln. Und es ganz frisch beim Bäcker zu kaufen, ist für viele ein tägliches Ritual. Das schätzt auch die Unesco so ein, als sie kürzlich das französische Baguette in die Liste des immateriellen Weltkulturerbes aufnahm. Die UN-Spezialorganisation für Bildung, Wissenschaft und Kultur, die diese Entscheidung auf einer Tagung in der marokkanischen Hauptstadt Rabat fasste, erklärte zur Begründung: »Das Baguette ist die beliebteste Brotart, die in Frankreich das ganze Jahr über gegessen wird.« Der traditionelle Herstellungsprozess umfasse mehrere Schritte: dosieren und wiegen der Zutaten, kneten, Gärung, teilen, entspannen, manuelle Formgebung und backen. »Das Baguette unterscheidet sich von anderen Brotsorten, da es aus nur vier Zutaten (Mehl, Wasser, Salz, Hefe und/oder Sauerteig) besteht, aus denen jeder Bäcker ein einzigartiges Produkt herstellt.« Das Baguette setze besondere Fertigkeiten und Techniken voraus, heißt es weiter von der Unesco. »Es wird den ganzen Tag über in kleinen Chargen gebacken und das Ergebnis variiert je nach Temperatur und Luftfeuchtigkeit. Es erzeugt Konsummuster und soziale Praktiken, die es von anderen Brotsorten unterscheidet.«

Trotz des Weltkulturerbe-Status – das Baguette ist noch gar nicht so alt. Es wurde Anfang des 20. Jahrhunderts in Paris kreiert und verbreitete sich dann auch in anderen französischen Großstädten, weil die bessergestellten Familien des Bürgertums eine Alternative zum üblichen großen Weißbrot wünschten, das bis zu zwei Kilogramm wog und für mehrere Tage reichen sollte, so dass es oft trocken und zäh wurde. Man wollte lieber täglich oder sogar mehrmals am Tag ein kleineres und dünneres, aber frisches und knuspriges Brot. Das Leichtgewicht von 250 bis 300 Gramm nannte man dann, ebenso wie einen Zauberstab oder den Schlagstock eines Dirigenten, »Baguette«. Zwar essen die Franzosen heute im Schnitt nur noch 90 Gramm Brot täglich, während es vor einem Jahrhundert noch zehnmal so viel war, dafür wird mehr auf Qualität geachtet.

»Der Weltkulturerbe-Titel der Unesco ist vor allem eine Anerkennung für die Bäckereien, die traditionell arbeiten und denen die Qualität ihres Brotes über alles geht«, sagt Dominique Anract, Präsident der Konföderation der Bäcker Frankreichs. Im Schnitt kaufen täglich zwölf Millionen Franzosen ein oder mehrere dieser Stangenweißbrote; im Jahr summiert sich das auf mehr als sechs Milliarden Stück. Doch dabei wird alles mitgezählt, was sich Baguette nennt, auch wenn es nicht aus einem Handwerksbetrieb kommt, der ausschließlich mit den traditionellen Zutaten und Fertigungsschritten arbeitet. Diesen Namen tragen auch die Stangenweißbrote, die aus einer automatisierten Fabrik kommen, um dann im Supermarkt angeboten zu werden, wo sie bestenfalls vor dem Verkauf noch einmal kurz aufgebacken werden.

Die Backwarenindustrie werde es nicht versäumen, mit dem Unesco-Titel Marketing zu betreiben, ist der Historiker Steven Kaplan überzeugt. »Dabei sind die doch nur Trittbrettfahrer.« Darum ist er über die Eintragung des Baguettes in die Liste des immateriellen Weltkulturerbes nicht recht glücklich. Der US-Amerikaner, der sich als junger Mann bei seinem ersten Frankreich-Besuch in das hiesige Brot verliebte und sich seitdem auf dieses Thema spezialisiert hat, gilt in Frankreich als der Experte für alles, was mit Brot zusammenhängt. Um noch sachkundiger urteilen zu können, hat er sogar neben seiner wissenschaftlichen Arbeit noch eine Berufsausbildung als Bäcker absolviert. »Leider konnte die Unesco aufgrund ihrer Vergaberegeln nicht nur das traditionelle Baguette würdigen, obwohl das natürlich gemeint ist«, schätzt Kaplan ein, der sich seit vielen Jahren für die Bewahrung und Vererbung des Erfahrungsschatzes der Bäcker einsetzt. Was bei der Industrie vom Fließband kommt, sei vergleichsweise blass und fade, meint er. Dass die Großbäckereien trotzdem beträchtlichen Absatz verzeichnen, verdankten sie nur den durch die Massenproduktion möglichen niedrigeren Preisen.

Glücklicherweise ist zumindest der Name »traditionelles Baguette« in Frankreich seit September 1993 durch ein Regierungsdekret geschützt, das die Zutaten und die Herstellungsweise genau vorschreibt. Dadurch kann nicht wie in der Industrie mit Zusatzstoffen getrickst werden, um den Geschmack und die Textur zu verbessern. Ascorbinsäure etwa sorgt dafür, dass der Teig fester wird. Und Vitamin C macht das Baguette rundherum knuspriger. »Durch das Dekret ist seinerzeit der Niedergang des Bäckerhandwerks, der durch die ungleiche Konkurrenz mit der Industrie unaufhaltbar schien, spürbar abgebremst worden«, erinnert sich Historiker Kaplan. Gern verweist er darauf, dass die Bäcker wegen ihrer körperlich schweren Arbeit am Tage und vor allem in der Nacht von Karl Marx »weiße Kumpel« genannt wurden.

Verbandspräsident Anract hofft, dass die Anerkennung des Baguettes durch die Unesco dazu beitragen kann, das Bäckerei-Sterben aufzuhalten. Während man 1970 landesweit noch 55 000 handwerkliche Bäckereien zählte und damit – gemessen an der seinerzeitigen Bevölkerung – eine auf 920 Einwohner kam, sind es heute nur noch 35 000 und damit eine Bäckerei auf fast 2000 Franzosen. In der zurückliegenden halben Dekade haben durchschnittlich 400 Bäcker pro Jahr »den Schlüssel unter die Tür gelegt«, wie man das hier volkstümlich bezeichnet. Vor allem auf dem Land gibt es immer weniger Bäckereien. Dort haben mehr und mehr Menschen keine Alternative zum Fabrik-Baguette aus dem Supermarkt.

In Paris hingegen versucht man gegenzusteuern. In der Hauptstadt wird jedes Jahr ein Wettbewerb um das beste Baguette ausgetragen, und der so gewürdigte Bäcker darf ein Jahr lang täglich den Elysée-Palast, also den Amtssitz des Präsidenten, beliefern. Dieser Titel ist so begehrt und werbewirksam, dass ihn nicht nur die Sieger, sondern auch die Zweit- und Drittplatzierten stolz über viele Jahre präsentieren.

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