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Feuer frei
Nach zweijähriger Pause darf Berlin wieder böllern – die Feuerwehr plant den Ausnahmezustand
Ein neongelber Schlauch auf dem Boden markiert den Sicherheitsabstand. Dahinter stehen die Pressevertreter*innen und warten auf den Knall. Eben hat ein Feuerwehrmann per Fernsteuerung einen unzertifizierten Böller angezündet. Der steckt in der Jackentasche des eisernen Gustav, einer Menschen-Attrape aus Metall. Es dauert noch ein paar lange Sekunden, dann macht es bumm. Danach: Tinnitus bei den echten Menschen, eine zerfetzte Jacke beim falschen.
Am Donnerstag hat der Verkauf von Feuerwerkskörpern begonnen. Nach dem zweijährigen pandemiebedingten »Böllerverbot« darf in Berlin dieses Jahr wieder fast überall gezündelt werden. Ein guter Anlass für die Feuerwehr, bei einer Pressekonferenz auf die Gefahren von Pyrotechnik hinzuweisen. Denn wäre Gustav aus Fleisch und Blut, müsste er nach dieser Explosion auf die Intensivstation, wie der Sprecher Thomas Kirstein erklärt. Bei einer zweiten Demonstration steckt der nicht zugelassene Sprengstoff in Gustavs Umhängetasche. »Gerade Jugendliche ziehen mit Rucksäcken, vollgepackt mit Feuerwerkskörpern, durch die Stadt«, begründet Kirstein den Versuchsaufbau. Wenn dann eine Rakete oder ein Böller in die Tasche fliege, könne das zu einer Massenexplosion führen.
Das wenig überraschende Ergebnis des Versuchs: Vom Innenfutter der Tasche bleibt nicht viel übrig. Die Feuerwehr rät deshalb dringend von unzugelassenem Feuerwerk ab. Doch auch bei den erlaubten Sprengkörpern sei die Bedienungsanleitung zu beachten, betont Branddirektor Karsten Homrighausen. »Insbesondere bei einem Abschuss aus der Hand oder aus unsicheren Behältnissen kommt es immer wieder dazu, dass Raketen in einem schrägen Winkel auf Häuser oder brennbare Materialien fliegen.« Sein Kollege zeigt, wie es richtig geht: Mit der Flasche im Getränkekasten besteht keine Umfallgefahr.
Falscher Gebrauch könne zu Bränden sowie zu medizinischen Notfällen führen, so der Feuerwehrchef. Die gesundheitlichen Risiken sind hinlänglich bekannt, der Oberarzt der Feuerwehr Martin Bender zählt sie dennoch auf: abgetrennte Gliedmaßen, insbesondere Finger, Verbrennungen, oftmals im Gesicht, Augenverletzungen. In über 30 Prozent der Fälle seien Menschen betroffen, die den Feuerwerkskörper nicht selbst gezündet hatten. »Aus der Perspektive der Medizin ist davon abzuraten, Feuerwerk zu verwenden«, so Bender.
Weil er weiß, dass die Realität anders aussieht, gibt er dennoch Tipps, was im Notfall zu tun ist: Ein abgetrennter Finger etwa sollte steril in Verbandsmaterial und eine Plastiktüte eingepackt werden, in einer zweiten Plastiktüte mit Eiswasser müsse er dann gekühlt werden. Nur so bestehe eine Chance auf erfolgreiche Replantation. Er appelliert zudem an die Bevölkerung, Kinder von Feuerwerk fernzuhalten: »Das gehört einfach nicht in ihre Hände.« Auch Menschen unter Alkohol- oder anderweitigem Drogeneinfluss sollten davon abgehalten werden, mit Explosivem zu hantieren.
Neben Appellen zum verantwortungsvollen Umgang mit Feuerwerk bereitet sich die Feuerwehr auf Silvester vor, indem sie das Personal für die »ereignisreichste Nacht des Jahres« fast verdreifacht, so Homrighausen. 1500 Einsatzkräfte warten dann auf ihren Einsatz – darunter nicht nur die Berliner Feuerwehr inklusive ihrer Auszubildenden, sondern zahlreiche Mitarbeiter*innen der Rettungsdienste von Hilfsorganisationen, Kräfte des technischen Hilfswerks, Teile der Bundeswehr sowie die Freiwilligen Feuerwehren.
Trotz der Verstärkung rechnet Homrighausen mit einem Ausnahmezustand und verweist auf die ohnehin anhaltende Überlastung der Rettungsdienste. Sein Kollege Bender erinnert außerdem an die Lage in den Krankenhäusern, die durch die aktuelle Infektionswelle an der Belastungsgrenze stehen. Laut dem Bundesverband Pyrotechnik könnte die Nachfrage nach Böllern und Raketen in diesem Jahr sogar das Vor-Pandemie-Niveau übersteigen. Dem RBB-Inforadio sagte der Verbandsvorsitzende Ingo Schuber, dass der Onlinehandel von der Auftragslage überwältigt sei.
Doch nicht in ganz Berlin heißt es dieses Jahr wieder »Feuer frei«. Drei Verbotszonen hat der Senat beschlossen, in denen bis auf »pyrotechnische Gegenstände der Kategorie F1« – also ohnehin legales Brenn- und Knallzeug wie Wunderkerzen oder Knallerbsen – kein Feuerwerk erlaubt ist. Laut Polizeipräsidentin Barbara Slowik wird die Polizei dort Absperrgitter aufstellen und die Zugänge kontrollieren. Zwei der Zonen, am Alexanderplatz und im Steinmetzkiez in Schöneberg, bestehen schon seit 2019. Dort waren in der Vergangenheit Raketen und Böller auf Einsatzfahrzeuge der Polizei und der Feuerwehr geflogen.
Neu ist die dritte Verbotszone rund um die Justizvollzugsanstalt (JVA) in Alt-Moabit. Dort hatte Feuerwerk in den vergangenen Silvesternächten für Fehlalarme gesorgt, 2018 bemerkten die Wärter daher erst spät den Fluchtversuch eines Insassen. Die raketenbedingte Ablenkung stammte möglicherweise aus der »Knast-Demo«, die traditionell zum Jahreswechsel aus Solidarität mit den Gefangenen zu einem Gefängnis zieht. Auch dieses Jahr läuft sie wieder pünktlich zum Rutsch ins neue Jahr zur JVA Moabit – trotz Verbotszone.
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