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Prophezeiungen der Herrschaft
An Horoskopen erklärte Theodor W. Adorno vor 70 Jahren die kapitalistische Gesellschaft
Astrologie steht wieder hoch im Kurs – oder immer noch? Die Verhaltenstipps aus den Sternen für alle Lebensbereiche von Liebe, Beruf, Familie bis Freundschaft sind eigentlich nie wirklich aus der Mode gekommen. Popularisiert wurden die unterhaltsamen Prophezeiungen im Zeitungshoroskop bereits vor mehr als 90 Jahren und finden heute ihre Entsprechung in den sozialen Medien. Als Tiktok-Videos oder Instagram-Reels erreichen sie ein Massenpublikum mit Lebensberatung: Wann stehen die Planeten günstig für Flirts, Gehaltserhöhung, Urlaub oder Friseurtermin? Was sagt mein Sternzeichen über meine Persönlichkeit und wer passt zu mir?
Mit Silvester endet die Zeit zwischen den Jahren, es ist die Zeit der Wunder und des Aberglaubens. Da schlechte Zeiten Aberglauben nähren und die Zeiten vorerst wohl nicht besser werden, werfen wir in unserer Silvesterausgabe einen Blick auf den boomenden Markt für Esoterik und Heilkristalle, untersuchen die Verbindung von Aberglauben zu rechtem Gedankengut und lassen Theodor W. Adorno den Kapitalismus aus Horoskopen erklären.
Alle Texte unter: dasnd.de/aberglaube.
Die einfachste und beliebteste Erklärung für den anhaltenden Erfolg der Sterndeutung ist: Sie liefert Antworten. »In so unsicheren Zeiten wie diesen suchen immer mehr Menschen Rat in den Sternen«, heißt es in einem »Vogue«-Artikel über Astro-Influencer*innen in den sozialen Medien. Diese Begründung hätte zu fast jeder Zeit überall so stehen können. Krisen und Unsicherheit ließen die Menschen nach Orientierung suchen und, so heißt es im Artikel weiter, die Astrologie biete »der Gen Z und den Millennials alternative Wege, um sich selbst und ihren Platz in einer rätselhaften und unsicheren Welt besser zu verstehen«.
Ist Astrologie also eine Art Ersatzreligion, in die sich Menschen flüchten, wenn ihnen die Welt zu chaotisch und unübersichtlich wird? Solche Erklärungen machen es sich zu einfach. Denn der Deutung des Schicksals in den Sternen ging es nie – wie es die Analogie zur Religion nahelegt – um Offenbarung, feste Wahrheiten und dogmatische Weltsichten. Vielmehr gehört es zum Horoskop dazu, dass man es nur halb ernst nimmt. Die banalen und austauschbaren Botschaften treffen immer und auf eigentlich alle zugleich zu. So wird die Astrologie zu einer seltsamen Mischung aus trivialem Inhalt und dem bis zur vermeintlichen Wissenschaftlichkeit betriebenen Ernst der Deutungsmethoden.
Medium der Ohnmacht
Aber die Anrufung dieser lächerlichen Autorität erfüllt eine ganz andere Funktion, denn das Erfolgsgeheimnis der Astrologie besteht nicht trotz, sondern gerade in ihrem Widerspruch. Die Macht der Sterne und Planeten bietet immer zwei Dinge gleichzeitig: Einerseits das Wirken höherer Mächte, an die man sich halten kann, andererseits die Möglichkeit, mit dem richtigen Wissen um die Gestirne und ihre Kräfte dem Schicksal doch ein Schnippchen schlagen zu können. Der Philosoph und Soziologe Theodor W. Adorno erkannte darin den Grundwiderspruch der kapitalistischen Gesellschaft wieder, den das Horoskop zu einer Pseudorationalität verarbeite, einem »zwielichtigen Bereich zwischen Ich und Es, Vernunft und Wahn«. Er untersuchte diese Form der »zur Ersatzmetaphysik hypostasierten Tatsachengläubigkeit« bereits vor 70 Jahren in einer heute noch bemerkenswerten Studie.
Bevor Adorno 1953 endgültig aus dem US-amerikanischen Exil nach Frankfurt zurückgekehrt war, hatte er 1952 in Kalifornien den Posten als Forschungsdirektor der Hacker Psychiatric Foundation angenommen. Unter seine Aufgaben fiel dabei auch jene Studie zur Inhaltsanalyse von Zeitungshoroskopen, die 1957 unter dem Titel »The Stars Down to Earth« veröffentlicht wurde – ein Wortspiel aus dem romantischen Versprechen, einem »die Sterne vom Himmel zu holen« und dem Versuch, die Astrologie auf den Boden der Tatsachen zu bringen, sprich materialistisch zu deuten. Eine deutsche Zusammenfassung der Studie erschien 1959 das erste Mal unter dem Titel »Aberglaube aus zweiter Hand«.
Adornos Analyse zur Horoskopspalte der Tageszeitung »Los Angeles Times« ist eine von vier großen Sozialstudien, an denen der Philosoph im Laufe seines Schaffens beteiligt war. Die bekannteste Studie unter ihnen dürfte jene »zum autoritären Charakter« sein, daneben untersuchte er Hassreden im Radio und Mechanismen der Schuldabwehr im Nachkriegsdeutschland. Die empirische Arbeit gehörte zum erklärten Anspruch des 1923 in Frankfurt gegründeten Instituts für Sozialforschung, dass materialistische Gesellschaftstheorie auf den Erkenntnissen der Einzelwissenschaften aufbauen müsse. Adorno setzte sich immer wieder kritisch mit den Methoden und der Ideologie der positivistischen Sozialforschung auseinander, die Studien dienten ihm aber zum konkreten Nachvollzug seiner gesellschaftstheoretischen Diagnosen. Wie zeigt es sich denn konkret, in einer, wie Adorno es nannte, verwalteten Welt und dem totalen Verblendungszusammenhang zu leben?
Am Horoskop lasse sich Adorno zufolge jene Entwicklungstendenz der Gesellschaft nachvollziehen, die diese als Ganze bestimme. Denn »das Konglomerat aus Rationalem und Irrationalem, das den Namen Astrologie trägt, reflektiert in solchem Zugleichsein des Unvereinbaren den kardinalen gesellschaftlichen Antagonismus«. Das Horoskop verarbeitet den Widerspruch, den die Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft notwendiger Weise erfahren würden: Sie sind einerseits freie Individuen und »ihres Glückes eigener Schmied«, andererseits aber hochgradig abhängig von der Gesellschaft, gezwungen zu gehorchen und ihre Arbeitskraft zu verkaufen.
Diese Erfahrung wird auch heute noch massenhaft gemacht. Wir müssen einzigartige Persönlichkeiten sein, unser volles Potenzial ausschöpfen und uns selbst verwirklichen. Zugleich spüren wir die Falschheit dieser Verheißungen und vor allem die überwältigende Ohnmacht, an diesen Verhältnissen auch nur irgendetwas ändern zu können. In gesellschaftlichen Krisen nimmt diese Ohnmachtserfahrung noch zu, wenn etwa der Klimawandel die Lebensbedingungen bedroht, aber Individuum und Gesellschaft scheinbar gar nichts dagegen unternehmen können. Papierstrohhalme und das Elektro-SUV sind die deutlichen Symptome der Ohnmacht.
Anpassung als Aktivität
Einerseits lebten wir in einer total verwalteten Gesellschaft, aber andererseits erlebten wir die »gesellschaftliche Irrationalität« an der »Undurchsichtigkeit und Zufälligkeit des Ganzen fürs Einzelindividuum«, so Adorno. Was stellen Menschen nun an, um mit dieser Ohnmachtserfahrung umzugehen, die ihre eigene Subjektivität wie ein Schatten verfolgt? Viele werden hart, sie verdrängen, werden anfällig für gewaltsames Abreagieren der Spannungen, sie identifizieren sich mit der Herrschaft und suchen Projektionsflächen, werden Faschisten oder Angestellte. Vor allem aber passen sie sich an, der Selbsterhaltung willen.
Das Horoskop offenbare diese widersprüchliche Anpassung, wie Adorno ausführt. Es fördere eine narzisstische Pseudoindividualisierung, schüre Ängste, biete aber zugleich Beistand und lindere schließlich den psychischen Druck durch die Hingabe an eine höhere Macht. Kurz gesagt, es eröffnet eine Möglichkeit, den Konflikt und das Leiden zu bearbeiten, ohne dass sich etwas an der Welt ändern muss: »Alles Leiden wird ins Private relegiert; Allheilmittel ist die Fügsamkeit«. Aber die Anpassung an das, woran man leidet, ist nicht einfach Resignation. Vielmehr werde die Ohnmacht gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen in eine Aktivität verwandelt: Durch die richtige Anpassung an das Bestehende könne man doch ein erfülltes Leben führen.
Adorno findet damit eine Formulierung für das Phänomen, das später innerhalb des Marxismus als »freiwillige Unterwerfung« diskutiert wurde. Die Horoskope geben weder Befehle noch üben sie irgendeinen Zwang aus. Aber sie vermitteln, dass, wer erfolgreich sein, also am Leben bleiben wolle, perfekt nach den Regeln spielen müsse. »Astrologie verdoppelt, was ohnehin ist, im Bewusstsein der Menschen«, indem es diese Regeln zu Gesetzen höherer Mächte macht. Etwa, wie Adorno herausstellt, mit einem scheinbar harmlosen bi-phasischen Schema, also der Einteilung des Lebens in abstrakte Zeitkategorien von Vormittag und Nachmittag beziehungsweise Abend. Alles von Arbeit bis Entspannung habe entsprechend seine richtige Zeit. Dies halte die Menschen dazu an, ihr Leben wie ein Projekt nach dem Vorbild von Produktion und Konsumption einzurichten.
Das richtige Gleichgewicht der Aufteilung entscheide dann über das persönliche Geschick. Aber das, so Adorno, ist eine Scheinlösung, die den Widerspruch in einer zeitlichen Abfolge aufzulösen vorgibt: »Das Entweder/Oder von Lust und Versagung verwandelt sich in ein Erst/Dann.« Der gesellschaftliche Widerspruch soll in einem Nacheinander versöhnt werden, das die Menschen dazu ermahnt, erst »im Kampf ums Dasein wie starke, unnachgiebige Individuen sich zu verhalten; dann wieder, sich zu fügen, nicht eigensinnig zu sein«.
Kein gutes Zeichen
Auf diese Weise lehrt »das Horoskop die Menschen, auf ihr Interesse zugunsten ihrer Interessen zu verzichten«. Und darin besteht die eigentliche Pseudorationalisierung: im sich Abfinden mit dem Bestehenden. Die gesellschaftlichen Verhältnisse werden zum Schicksal verdinglicht, das man gerade dadurch noch beeinflussen könnte, indem man sich nur gut genug daran anpasst. Adorno beschreibt, dass diese Pseudorationalität einen Menschenschlag provoziert, der zu skeptisch für die offizielle Ideologie ist, aber nicht skeptisch genug, um wirklich deren Hintergrund zu verstehen. Ein solcher Sozialcharakter ist heute nur zu gut bekannt, ob auf Querdenken-Demonstrationen oder im sogenannten »libertären Autoritarismus«.
Die Pointe von Adornos Studie war jedoch nicht, dass die Phänomene Horoskope und Astrologie die Menschen erst zu solchen Figuren machten und derart manipulierten, dass sie für autoritären Gehorsam und Stumpfsinn empfänglicher würden. Die esoterischen Auswüchse der Kulturindustrie sind keinesfalls Ursprung, sondern Ausdruck einer gesellschaftlichen Tendenz. Mit anderen Worten: Dass es eine Massenfaszination für Horoskope gibt, ist der Hinweis auf eine hochgradig irrationale Einrichtung der Gesellschaft, in der die lückenlose Organisation von Herrschaft und Ausbeutung zu einem Grauen angeschwollen ist, das »ein jeder … auf der eigenen Haut spürt«. Daran muss uns jeder hoffnungsvolle Blick in die Sterne, jede Inspiration in dieser Mystik für unser Leben, jedes Astro-Tiktok erinnern.
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