Wahn, Wunsch und Wirklichkeit

Über die Figur der Hexe als feministischer Dauerbrenner und die historische Realität

  • Dorothea Schmidt
  • Lesedauer: 7 Min.
Eine Demonstration gegen den Abtreibungsparagrafen 218, Memmingen 1989. Zum vorderen Transparent ist anzumerken: Im Mittelalter waren gerade Schwangerschaftsabbrüche zumeist nicht verboten.
Eine Demonstration gegen den Abtreibungsparagrafen 218, Memmingen 1989. Zum vorderen Transparent ist anzumerken: Im Mittelalter waren gerade Schwangerschaftsabbrüche zumeist nicht verboten.

Seit sich Halloween als US-Import in Deutschland verbreitet hat, werden auch hierzulande Kürbisse ausgehöhlt und Mädchen verkleiden sich gerne mit spitzen schwarzen Hüten und knolligen Nasen. Doch die Hexen sind nicht nur auf diese Weise wiedergekehrt. Die kalifornischen Hippies der 1970er Jahre entdeckten sie als Identifikationsfiguren, was da und dort von Feministinnen aufgenommen und weitergeführt wurde. Mittlerweile werden Hexenseminare angeboten, Bücher mit Anleitungen zu »kraftvollen Praxis-Ritualen der weißen Magie« verkauft und in dem Blog unter dem Titel ANDERS[nicht]ARTIG schreiben Marburger Kulturwissenschaftlerinnen: »Die Hexe war und ist auch eine symbolische Figur für die Selbstermächtigung von Frauen*, für politische Forderungen nach Selbstbestimmung über die eigenen Körper, reproduktive Fähigkeiten und letztlich Freiheit.« Auf Demonstrationen und Kundgebungen zur #MeToo-Bewegung ist nunmehr häufig der Slogan zu vernehmen: »We are the witches you were not able to burn.«

Aberglaube-Serie

Mit Silvester endet die Zeit zwischen den Jahren, es ist die Zeit der Wunder und des Aberglaubens. Da schlechte Zeiten Aberglauben nähren und die Zeiten vorerst wohl nicht besser werden, werfen wir in unserer Silvesterausgabe einen Blick auf den boomenden Markt für Esoterik und Heilkristalle, untersuchen die Verbindung von Aberglauben zu rechtem Gedankengut und lassen Theodor W. Adorno den Kapitalismus aus Horoskopen erklären.

Alle Texte unter: dasnd.de/aberglaube.

Geschichtsklitterung bei Federici?

Auf akademischer Ebene sind die Hexen insbesondere durch Silvia Federici zu neuen Ehren gekommen. Ihr Buch »Caliban und die Hexe – Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation« erschien erstmals 2004 auf Englisch und hat seither viele Auflagen erlebt; allein von der deutschen Ausgabe liegt bereits die neunte vor. In feministischen und soziologischen Kreisen wurde es enthusiastisch aufgenommen, nicht aber von Historiker*innen. Denn Federicis Blick auf die Hexenverfolgung der frühen Neuzeit verzerrt die Geschichte ähnlich wie es in neueren Kampagnen zur »Rehabilitierung« der Hexen geschieht, wenn diese als tragische Heldinnen der Rebellion gegen patriarchale Unterdrückung dargestellt werden.

Die Verbindung, die Federici zwischen der Hexenverfolgung und der »Selbstbestimmung über die eigenen Körper« herstellt, ist dabei nicht einmal besonders neu: Bereits 1979 erschien das Buch »Die Vernichtung der weisen Frauen« der beiden Bevölkerungswissenschaftler Gunnar Heinsohn und Otto Steiger. Darin wurde vertreten, Staat und Kirche hätten sich seit dem späten Mittelalter darauf verständigt, »weise Frauen«, insbesondere Hebammen, als Hexen anzuklagen, da diese über geheimes Wissen zu Empfängnisverhütung und Abtreibung verfügten, das der »magisch-heidnischen Kultur« entstammte. Diese Frauen seien also das Hauptziel der grausamen Verfolgungspraxis gewesen, die zehntausendfach mit Folterungen und dem Tod auf dem Scheiterhaufen verbunden war. In einer Zeit, in der es im Gefolge der Studierendenbewegung populär wurde, den Staat als mächtige Unterdrückungsinstanz und die katholische Kirche als Organ traditioneller moralischer Kontrolle anzuprangern, schien diese Interpretation der Geschichte vielen einleuchtend und das Magazin »Der Spiegel« widmete dem Werk 1984 sogar eine Titelgeschichte.

Wie handelten die Autoritäten wirklich?

Als Beleg für die These, die Hexenverfolgung sei in erster Linie ein Kampf gegen sexuelle Selbstbestimmung gewesen, wird bis zum heutigen Tag auf eine Schrift von 1487 verwiesen: den »Hexenhammer«. Dabei handelt es sich um eine theologische Abhandlung, die in den folgenden Jahrhunderten mehrfach wiederaufgelegt wurde. Diese spitzt Zauberei erstmals auf Frauen zu und bringt sie mit sexuellen Ausschweifungen in Verbindung. Der Text hatte zwar keine unmittelbare Auswirkung auf die Praxis der Verfolgungen, die erst sieben Jahrzehnte später verstärkt einsetzten, er führte aber zu heftigen theologischen Auseinandersetzungen. Es entstand dazu keine einheitliche Lehrmeinung und schon gar kein Diktat von oben. Weder die Päpste noch die Inquisition in Spanien und Portugal bemühten sich, diese Form von Häresie zu bekämpfen und sahen sie auch nicht als solche an. Menschen dafür anzuklagen, dass sie am Hexensabbat teilnehmen oder über magische Formeln verfügen würden, um ihresgleichen oder Vieh zu verzaubern, hätte ja bedeutet, dass man diese Praktiken für real wirksam hielt. Man hätte also den Aberglauben erst recht bestätigt.

Die Behauptung, »der Staat« habe im 17. Jahrhundert in vielen Ländern eine gezielte Bevölkerungspolitik betrieben, steht auf ähnlich tönernen Füßen. Ein moderner Staatsapparat, also eine bürokratisierte Zentralgewalt, entwickelte sich erst viel später, nämlich seit dem 19. Jahrhundert. Zwar gab es in Bezug auf die optimale Größe der Bevölkerung in vielen Ländern seit 1600 tatsächlich entsprechende Diskussionen und innerhalb der Schule des Merkantilismus wurde eine hohe Bevölkerungszahl als erstrebenswert angesehen. Doch faktisch konnten oberste Staatsorgane kaum in die Fortpflanzungsgewohnheiten ihrer Bevölkerung eingreifen und als Problem wurde vielfach keine Unter-, sondern eine häufig bestehende Überbevölkerung gesehen.

Anklagen wegen Hexerei erfolgten nicht kontinuierlich Jahr für Jahr, sondern traten periodisch gehäuft auf, oft mehrere Jahrzehnte lang gar nicht. Auch betrafen sie einzelne Regionen in Europa in ganz unterschiedlichem Ausmaß. Ihr Schwerpunkt lag im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, in England gab es einige hundert Hinrichtungen, in Irland, Portugal und Spanien überhaupt nur vereinzelte Fälle.

Auch Männer wurden als Hexer verfolgt

Wenn sich die Hexenverfolgungen nicht gegen die »weisen Frauen« und ihr »geheimes Wissen« richteten, gegen wen dann? Die historische Hexenforschung hat in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten dazu eine Fülle von Ergebnissen hervorgebracht, die sich vor allem auf die häufig gut dokumentierten Prozesse stützen. Demnach waren etwa 80 Prozent der Angeklagten Frauen, 20 Prozent aber Männer, wobei der Anteil der angeklagten Hexenmeister mancherorts noch sehr viel höher lag. Dass die Anklagen gegen Frauen deutlich überwogen, ist damit zu erklären, dass sie in der Gesellschaft meist rechtlich, gesellschaftlich und ökonomisch den Männern nachgeordnet waren, also die »leichteren« Opfer darstellten.

Die möglichen Vorwürfe, die diesen Menschen gemacht wurden, umfassten fünf Arten von Vergehen: Teufelspakt, Teufelsbuhlschaft, Hexenflug, Teilnahme am Hexensabbat, Planung und Ausführung von Schadenzaubern. In der Praxis betrafen die Anklagen vor allem den letzten Punkt, also Schäden, die Hexen oder Hexenmeister anderen durch Zauberei zugefügt haben sollen: dass die Ziege verendet, der Ochsenkarren in den Graben gestürzt oder die Scheune abgebrannt war, die Frau eine unerklärliche Krankheit hatte, der Mann impotent wurde oder das Kind plötzlich starb. Häufig spielten dabei nachbarliche Streitigkeiten um Besitz und Ehre eine Rolle – man konnte auf diese Art gut anderen etwas heimzahlen. Die Suche nach Sündenböcken verstärkte sich, wenn es extreme Wetterereignisse wie Hagelschläge oder Dürren gab oder aber, wenn durch Kriege und Phasen von landwirtschaftlichen Krisen, Hungersnöten und Teuerungen ein allgemeines Klima der Verunsicherung herrschte, etwa in der »Kleinen Eiszeit«. Solche Ereignisse erschütterten bisherige Weltbilder und den Glauben an die Kirche, sodass viele Menschen sie lieber magischen Kräften zuschrieben. Häufig waren es Frauen, die andere Frauen anklagten. Dabei richteten sich die Vorwürfe nur in den allerseltensten Fällen gegen Hebammen oder »weise Frauen«. Im Gegenteil wurden gerade sie von den Geschädigten häufig angesprochen, um Rezepte zur Heilung von Hexereischäden oder auch Hinweise zur Entdeckung der vermeintlichen Übeltäter oder Übeltäterinnen zu bekommen.

Problematische Weiblichkeitsbilder

Die neuere Hexenforschung bestätigt somit weder, dass bei den Verfolgungen Motive der Unterdrückung von Sexualität dominant waren, noch dass die katholische Kirche sie besonders vorantrieb. Woher aber stammt dieses Argumentationsmuster? Die Spur führt zurück ins 19. Jahrhundert, als in bürgerlichen Kreisen die Polarisierung der Geschlechtscharaktere populär wurde, also Weiblichkeitsbilder, die Frauen der Sphäre der Gefühle, der Natur und dem Heilen zuordneten. Damit ging eine Aufwertung und Verklärung von Hexen einher. Gleichzeitig kam es insbesondere in Deutschland zu einem Kulturkampf, bei dem der politische Einfluss der katholischen Kirche zurückgedrängt werden sollte.

Beide Deutungen wurden auch in der nationalsozialistischen Ideologie weiterverfolgt, und zwar im Rahmen des völkischen Feminismus. Die Hexe wurde zu einer altgermanischen Priesterin stilisiert, deren Kult die katholische Kirche durch ihre umfassenden Verfolgungen ausgerottet habe. Der Reichsführer-SS Heinrich Himmler sah hier eine gute Gelegenheit, mit der Kirche abzurechnen und die mythisierte frühere Volkskultur zu preisen. Er veranlasste daher die erste systematische Erforschung der Hexenverfolgungen, für die ein eigenes Sonderkommando eingerichtet wurde. Eine Gruppe von Forschern durchforstete jahrelang zehntausende von Prozessakten, um Belege für Himmlers Obsession zu finden. Das Ergebnis bestand in einer Kartothek mit mehr als 30 000 Eintragungen, deren wissenschaftlicher Wert fragwürdig bleibt und die auch in keiner Weise ausgewertet wurde. Feministinnen, die solche germanophilen und antikirchlichen Stereotypen aufnehmen, befinden sich – sicherlich ungewollt! – in ausgesprochen schlechter Gesellschaft.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.