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Männliche Silvester-Konkurrenz
Die Silvesterkrawalle und Reaktionen darauf lassen sich als symbolische Schlacht zwischen marginalisierter und hegemonialer Männlichkeit dechiffrieren
Seit die Deutsche Polizeigewerkschaft in Reaktion auf die Silvesternacht ein Böllerverbot für den Jahreswechsel gefordert hat, ist sie wieder da: die Debatte um ein Ende der Silvesterknallerei. Schon in den vergangenen Jahren hatten sich Sprecher*innen der Polizeilobby für Verbote ausgesprochen, da offiziell noch wegen der Lage in den Krankenhäusern. Dass sich die Debatte binnen weniger Tage von einer um Böller zu einer um Integration gewandelt hat, war zu erwarten – ermöglicht diese Schwerpunktsetzung doch, über die spezifische Männlichkeit von denen ganz unten zu sprechen, die Männlichkeit der Mehrheit dadurch aber unangetastet zu lassen.
Doch das Silvesterritual mit Böllern und Raketen stellt eben nicht nur für Neuköllner Böllermänner ein gesellschaftliches Zugeständnis an den Bruch jener Regeln dar, die an den sonstigen 364 Tagen zu gelten haben. Durch diese Regeln hegt die Zivilisation das latent struktursprengende, anarchische Moment von Männlichkeit ein – eine Einhegung, in der Ventile, kulturelle Sollbruchstellen eingelassen sind. Der Genuss der stets mit Verletzung drohenden Sprengvorrichtungen, die laute, kompetitive Beanspruchung des öffentlichen Raums und die in der Zusammenschau entstehende, an ein Kriegsgebiet erinnernde Geräuschkulisse ermöglichen ein spirituelles Erlebnis von Männlichkeit.
In dieser Erfahrung verwirklicht sich eine Rückversicherung auf ein vermeintlich ahistorisches, ewiges Geschlechterprinzip. Sie tröstet über das Unbehagen angesichts einer Kultur hinweg, die immer weniger Bedarf an Kriegern hat und in der kommunikative und damit weiblich markierte Fähigkeiten Grundlage ökonomischen Erfolgs sind.
Kein Wunder also, dass Böllermänner jedes Jahr an einer Ausdehnung der Erlaubnis zur regellosen Zeit arbeiten und bereits Tage vor Silvester die ersten Lunten entzünden. Zugrunde liegt dasselbe Prinzip, wegen dem es auch dem Fußballstadion prinzipiell nie gelingen kann, die Simulation der Schlacht im Innern seiner Mauern zu halten – regelmäßig versuchen Hooligans, Ultras und andere weiß dominierte Männergruppen rund um den Fußball, das Schlachtfeld auszuweiten und den Kampf auf Straßen und Plätze zu tragen.
Der Exzess der Aufstandsinszenierung aber ist von der Gesellschaft längst funktional eingepreist: Er stellt eine nicht auf Frauen angewiesene, reproduktive Tätigkeit dar, an deren Ende sich die Arbeitskräfte wieder in ihr Lohnarbeitsleben integrieren und sich von Neuem den Chefs und der Gesellschaft der Regeln unterordnen. Nur kümmerliche Versprengte brennen in den Abendstunden der ersten Januartage noch melancholisch ihre letzten Reserven ab.
Interessant aber ist das politische Bündnis, das entsteht, wenn Linke zusammen mit den Polizeilobbys ein grundlegendes Böllerverbot fordern, dem sich wiederum Liberale und Konservative entgegenstellen. Polizist*innen sind ja die Einzigen, denen die Aufrechterhaltung kriegerischer Tätigkeit und Tugend gestattet ist. Männlichkeit ist eingehegt, aber nicht abgeschafft. Kein Wunder also, wenn ausgerechnet unter Uniformierten einige mit Missgunst auf die jährliche Männlichkeitseskalation mit ihrer Infragestellung des Monopols blicken.
Eben weil der Silvesterknallerei kriegerisch-männliche Prinzipien eingeschrieben sind, wird dabei nicht nur die Zurückdrängung des Weiblichen, des Schwachen und Verletzlichen genossen, das wimmernde Haustiere umsorgt oder sich an Wunderkerzen erfreut. Sie eskaliert ganz notwendig auch zu einer Kampfansage an konkurrierende Gruppen, die ihrerseits für eine, wenn auch stets kompromittierte, Form von Männlichkeit, Stärke und Gewalt stehen – etwa an die die Gesellschaft der Regeln verkörpernde Polizei.
Der ethnisch verklärte Kampf der Neuköllner Böllermänner lässt sich so als symbolische Schlacht zwischen marginalisierter und hegemonialer Männlichkeit entziffern. Gegen die aber ist tatsächlich ein Kraut gewachsen: das Verbot des Verkaufs von Pyrotechnik.
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