• Kommentare
  • Angriffe auf Feuerwehr und Sanitäter

Ohne Empathie

Christoph Ruf über die ideologischen Brillen auf allen Seiten in der Debatte über die Berliner Silvesternacht

Die Gesellschaft ist gespalten, ganz tief. Das wird gerne und oft wiederholt. Und wie zum Beweis, dass nicht alles falsch sein muss, was so geredet wird, hören sich die Reaktionen auf die Ereignisse in der Silvesternacht an. Die Lesart von links geht in etwa so: Wenn Menschen durch Nazis bedroht werden, wollen wir es ganz genau wissen: Wo gingen sie in die Kita, wo ins Gym, wer hat sie indoktriniert? Je mehr Linke wissen, desto eher können sie das Übel an der Wurzel packen. Was im Übrigen völlig richtig ist. Denn auf das, was man weiß, kann man saudumm und intelligent reagieren. Wenn ich weiß, dass ein roter Opel den Opa auf dem Zebrastreifen mit Tempo 100 überrollt hat, muss ich nicht zu dem Schluss kommen, alle roten Opels zu verbieten. Anders gesagt: Erkenntnisse an sich sind nicht das Problem. Sondern populistische oder rassistische Antworten darauf. Doch für ideologische Linke ist derjenige, der nach der Silvesternacht fragt, was man über die Täter wisse, schon bäh. Denn wer die Täter sind, tut nichts zur Sache. Was passiert ist, wird schon was mit toxischer Männlichkeit zu tun haben oder mit rassistischen Polizeikontrollen, da kann man in seiner gerechtfertigten Wut schon mal Bullen mit Sanitätern und beide mit Feuerwehrleuten oder Dreijährigen verwechseln. Im Übrigen sollen sich die Sanis und Feuerwehrleute mal nicht so anstellen, sie sind es ja nun in ihrer Mehrheit wirklich nicht diejenigen, die hierzulande diskriminiert werden.

Die Lesart von rechts geht in etwa so: Da sieht man es mal wieder, wozu der Ausländer fähig ist. Die Urgroßmutter des Ausländers ist nicht mal in Deutschland geboren, und dann macht er auch noch Ausländersachen. Kein Schwein grüßen, kein Schwein essen und Böller in Rettungswagen schießen. Vom Versagen der Bildungs-, Sozial- und Wohnungspolitik möchte der Rechte jedenfalls nichts hören. Tut alles nichts zur Sache. Hier wie auch überall sonst im Leben hilft nur eins: Der Ausländer muss ausgewiesen werden. Und zwar ins Ausland, wo er hingehört. Am besten nimmt er die Urgroßmutter gleich mit. Die ist eh immer nur schwanger, um Kindergeld zu kassieren.

Christoph Ruf (Print)
Christoph Ruf ist freier Autor und beobachtet hier politische und sportliche Begebenheiten.

Die dritte Lesart kommt von der offiziellen Politik und ist selbstverständlich kein bisschen intelligenter. Rechts unten, also Söder in Bayern: So was kann auch nur in Berlin passieren. Oder überall sonst, wo Sozis regieren. Und Berlin, also Giffey: Scheiße, so kurz vor der Wahl. Jetzt muss Handlungsfähigkeit demonstriert und der betroffene Blick angeknipst werden. Lasst uns also schnell einen Gipfel und eine Kommission gründen und ihr so lustige Namen geben wie damals, als ich Bildungsdingsbums war und noch meinen Doktortitel hatte. Au ja: »Gute-Nachbarschafts-Gipfel«. Oder noch besser: »Gutes Gesetz-Gesetz«. Das klingt brutal entschlossen.

Nun kann man sich natürlich wundern, wie dick die Gläser der jeweiligen ideologischen Brillen sein können, doch ich fürchte, das greift zu kurz. Denn sämtliche Lesarten sind tief verinnerlicht und offenbar durch keinen Realitätsschock zu erschüttern. Es ist wohl eher so: Wer dauerhaft nur im eigenen Milieu unterwegs ist, der sortiert anhand von politischen Themenfeldern nur noch in Gut und Böse, hinterfragt seine eigene Haltung nicht mehr und hat es auch nicht mehr ganz so mit der Empathie. In dem Fall für die Menschen in den angegriffenen Autos, die wurden in vielen Statements – oops – glatt vergessen. Der weitaus klügste Satz, den ich in diesem Jahr gelesen habe, ist von Juli Zeh: »Irgendwann wird jeder ein Problem, der nicht zufällig man selbst ist.«

Welche Form der ideologischen Verblendung die Berlinerinnen und Berliner – egal, ob sie nun Yussuf oder Jana heißen –, mehr überzeugt, weiß ich nicht. Ich prognostiziere aber schon mal eine beschissene Wahlbeteiligung und ein traurig-gutes Ergebnis für die AfD. In Bayern wird 2023 auch gewählt. Da kann aber tatsächlich nicht das passieren, was in Berlin passieren wird. Einfachere Antworten als Markus Söder findet schließlich nicht mal die AfD.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.