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Die Enkel fechten’s noch besser aus
Von Gorleben bis Lützerath – der Staffelstab ist weitergegeben. Ein Foto-Text-Band erinnert an die Pioniere der Klimagerechtigkeit und würdigt heutige
Klimaterroristen» ist zum Unwort des Jahres 2022 gekürt worden. Was diese angeblichen Verbrecher der Bundesrepublik im Laufe der letzten Jahrzehnte an gesellschaftlichem Fortschritt beschert haben, wie dies allerdings auch stets erst nach heftigen Auseinandersetzungen mit einer konservativen Mehrheitsmeinung und oft genug nur mit spektakulären Aktionen oder gar im Konflikt mit den «Ordnungskräften» gelang, ist nachzulesen in einem beachtenswerten Foto-Text-Band. Er erscheint zur rechten Zeit, dürfte den Protestierenden in Lützerath Bestärkung und historische Selbstvergewisserung geben. Ob Atomkraft oder Kohlebergbau – scheinbar längst auch im öffentlichen Bewusstsein abgehakte fossile und fatale Energielieferanten werden wiederbelebt – ein gefährlicher Rückschritt.
In dem hier angezeigten, von Umweltinitiativen herausgegebenen Band kommen viele authentische Stimmen, Aktivisten, Sympathisanten und Zeitzeugen zu Wort. Erinnert wird auch an Pioniere der Umwelt- und Anti-Atomkraft-Bewegung, die nicht mehr unter uns weilen, wie deren «Barde», der 2015 verstorbene Walter Mossmann, tituliert wird. Sein «Lied vom Lebensvogel» avancierte zur Hymne gegen das Atommüllager Gorleben und Castor-Transporte ins Wendland: «So sing doch, Vogel sing, dass Gorleben lebt/ Dass dort der Totengräber seine eig’ne Grube gräbt!/ Sing doch, Vogel, sing, dass Gorleben lebt/ Dass dort der Totengräber seine eig’ne Grube gräbt!»
In seinem einleitenden Essay merkt Reimar Paul an: «Manchmal liegen Triumph und Trauer, Freude und Frust nur Stunden oder Tage auseinander. Auch in der Anti-AKW-Bewegung. Bei den von massenhaften Protesten begleiteten Castor-Transporten nach Gorleben folgten auf den Jubel über erfolgreiche Blockaden oft Tränen, wenn der Atommüll-Konvoi dann doch – meistens nachts – ins Zwischenlager geprügelt wurde. Manchmal liegen aber auch Jahre dazwischen. Oder Jahrzehnte.»
Der Kampf in Gorleben hatte im Februar 1977 begonnen, mit der Ankündigung des niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht (CDU), dass im Kreis Lüchow-Dannenberg ein «nukleares Entsorgungszentrum» entstehen solle, 16 Quadratkilometer groß. Landesregierung und Atomlobby spekulierten, dass sich im strukturschwachen und konservativen Wendland kein Protest erheben würde, erst recht nicht, wenn Arbeitsplätze versprochen würden. Ein grandioser Irrtum.
Paul erinnert: Noch am Abend der Standortbenennung versammelten sich in Gorleben Hunderte empörter Menschen. Drei Wochen später demonstrierten 16 000 auf dem geplanten Baugelände. Im März 1979 kam es dann zu dem legendären Treck von Bauern und Bäuerinnen aus Lüchow-Dannenberg in die Landeshauptstadt Hannover, wo sie von 100 000 Sympathisanten begeistert empfangen wurden. Landesvater Albrecht ließ daraufhin Bundeskanzler Helmut Schmidt telegrafisch wissen, dass eine Wiederaufbereitungsanlage «politisch derzeit nicht durchsetzbar» sei. Die Erkundung und Aushöhlung des unterirdischen Salzstocks in Gorleben ging jedoch weiter, bis 2014 wurde dort «gebuddelt und gebohrt», trotz Protesten, trotz Warnungen von Wissenschaftlern. Ein Untersuchungsausschuss des Bundestages beschäftigte sich mit Gorleben. Alles für die Katz. CDU/CSU und die Atomindustrie sprachen dem Salzstock eine «Eignungshöffigkeit» zu, auch SPD und Grüne fixierten im «Atomkonsens» von 2001, er sei «eignungshöffig» – und begingen damit ruchlosen Verrat an ihr Klientel, ihrer Parteibasis und den einstigen Aktivisten aus ihren Reihen.
Erst 2022 gab die Bundesgesellschaft für Endlagerung bekannt, dass der Salzstock in Gorleben aus geologischen Gründen nicht mehr als Standort für ein Endlager infrage komme. «Doch die Wende hat – auch – politische Gründe. Denn ohne den beharrlichen Widerstand wäre das Aus für den zerklüfteten Salzstock kaum denkbar gewesen», schreibt Reimar Paul. «Gorleben zeigt, dass Fehlentwicklungen selbst gegen mächtige Interessen in Wirtschaft und Politik korrigiert werden können.» Am 4. Oktober 2020 rund 2000 Menschen einen der größten politischen Erfolge der Anti-AKW-Bewegung. Und nachdem Niedersachsens Umweltstaatssekretär mitteilte, dass das Bergwerk endgültig stillgelegt werde und keine Nachnutzung erfolge, stieg die ganz große Party. Ein 16-seitiger Beileger im Buch erinnert an die Widerstandsfete am 3. Juni vergangenen Jahres rund um das Beluga-Dreieck mit 10 000 Menschen und Live-Konzerten.
Der Band, illustriert mit 480 eindrucksvollen Fotos, zumeist von Günter Zint, verschweigt nicht schmerzliche Niederlagen, die es auch immer wieder gab, häufiger als Triumphe. Beispiel: das AKW in Brokdorf, seit den 70er Jahren umkämpft und nach dem Super-Gau in Tschernobyl noch stärker ins Visier der Atomkraftgegner geraten. 80 000 zogen nach der halb Europa verseuchenden Katastrophe zum bereits fertiggestellten Atomkraftwerk, wo sie von martialisch ausgerüsteter Polizei empfangen wurden. Das AKW selbst bot sich ihnen als unbezwingbare Festung: «rundherum ein massiver Zaun, obendrauf Nato-Draht, dahinter fest installierte Wasserwerfer, davor ein sechs bis sieben Meter breiter Wassergraben.» Noch heute ist es erschütternd und empörend, mit welch brachialer Gewalt die Polizeiamarda mit Wasserwerfern, Tränengas und Leuchtschussmunition gegen die Demonstranten vorging: «Die Leute fliehen in Panik über die Wiesen, stolpern in Gräben, verletzen sich am Stacheldraht. Einige wenige versuchen, die nachsetzenden Polizisten mit Steinwürfen auf Distanz zu halten. Aber die wirken wie entfesselt, prügeln auf Liegengebliebene ein. Auch auf den umliegenden Wiesen geht die wilde Jagd auf fliehende Demonstrant:innen weiter … Von überall sind Rufe nach Ärzten oder Sanitätern zu hören.» Ein halbes Jahr später ging das AKW Brokdorf in Betrieb, als erstes in Europa nach Tschernobyl. Am 31. Dezember 2021 wurde es abgeschaltet, gemäß dem regierungsoffiziell beschlossenen Atomausstieg. Letztendlich war das aber auch ein Erfolg der Anti-Atomkraft-Bewegung. Resultat konsequenten Widerstands war ebenso, dass der «Schnelle Brüter» in Kalkar und der Hochtemperaturreaktor in Hamm nicht in Betrieb gingen beziehungsweise nach kurzer Betriebszeit stillgelegt wurden.
«Die Anti-AKW-Bewegung hat den Ausbau der erneuerbaren Energien angestoßen; sie sorgte dafür, dass sich Wind und Sonne ungeachtet aller Torpedierungsversuche durch Konzerne und Regierungen als Energieträger etablieren konnten», betont Paul, Journalist in Göttingen und «nd»-Autor. Hinzuzufügen wäre: Es ist gelungen, den Staffelstab weiterzureichen. Die Aktivisten von Lützerath oder vom Hambacher Forst sind die Enkel der Atomkraftgegner. Und vielleicht braucht die heutige, für Gefahren sensibilisierte Generation nicht Jahrzehnte, um sich durchzusetzen. Der dramatische Klimawandel gestattet keinen Aufschub. Und wie heißt es doch so schön? Die Enkel fechten’s besser aus.
Atomkraft – nein danke! 50 Jahre Anti-AKW-Bewegung. Hg. v. Ausgestrahlt e.V., Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg und Göttinger Arbeitskreis gegen Atomenergie. ÖkoBuch, 272 S., geb., 28 €.
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