- Politik
- Israel
»Todesstoß für die Demokratie«
In Israel löst der Angriff der rechtsextremen Regierung auf die Gewaltenteilung massive Proteste aus
Die Zahl der Politiker*innen, die sich unter die Demonstrierenden mischten, war dieses Mal besonders groß: Nahezu die gesamte Opposition und deren Spitzenpersonal waren gekommen, außerdem viele Richter*innen, Staatsanwält*innen und Verteidiger*innen. Und wer nicht dabei sein konnte, gab zumindest ein öffentliches Statement zu Protokoll. Zum Beispiel Esther Hayut, Präsidentin des Obersten Gerichtshofs, die bereits am Donnerstag in einer Rede vor der Vereinigung für öffentliches Recht in Haifa die Pläne der Regierung als »Todesstoß für die Demokratie« bezeichnet habe. Sie seien ein »hemmungsloser Angriff auf die Demokratie«, ein »Blankoscheck«, der eine große Gefahr für die Menschenrechte darstellt. Mitten in einem starken Winterregen haben sich am Samstagabend mindestens 80 000 Menschen in Tel Aviv versammelt, um gegen die neue rechtsextreme Regierung zu demonstrieren.
Die gerade erst ins Amt eingeführte Koalition aus dem rechtskonservativen Likud von Regierungschef Benjamin Netanjahu, den drei rechtsradikalen Parteien des Bündnisses »Religiöser Zionismus« und den beiden ultraorthodoxen Parteien hat sich einen umfassenden Umbau des Rechtsstaats vorgenommen. Eine einfache Mehrheit von 61 Stimmen im Parlament soll künftig Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes aushebeln können. Außerdem soll die Politik Richter*innen ernennen und nicht mehr eine unabhängige Kommission. Die juristischen Berater*innen von Ministerien und Regierungschefs sollen zudem künftig von den jeweiligen Minister*innen ernannt werden und auch nicht mehr der Generalstaatsanwaltschaft gegenüber rechenschaftspflichtig sein.
Die Pläne werfen ihren Schatten voraus: Während die Regierung versucht, die Reformen im Eiltempo durchs Parlament zu bringen, wird vor dem Obersten Gerichtshof eine Klage gegen die Ernennung von Arijeh Deri zum Innen- und Gesundheitsminister verhandelt. Denn der Politiker der ultraorthodoxen Schas-Partei wurde 2000 wegen Korruption, Betrugs und Amtsmissbrauchs zu einer Haftstrafe verurteilt. Ende 2021 folgte dann eine Anklage wegen Steuerhinterziehung. Das Verfahren endete mit einer Vereinbarung: Deri verpflichtete sich, aus der Knesset zurückzutreten und eine Geldstrafe zu zahlen. Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit verzichtete im Gegenzug darauf, Deri gerichtlich für die üblichen sieben Jahre von öffentlichen Ämtern ausschließen zu lassen. Deri ist nicht nur zurück im Parlament, sondern sogar Minister. Sollten die Pläne umgesetzt werden, könnte die Koalition eine Entscheidung des höchsten Gerichts Israels einfach überstimmen.
Bei der Massendemonstration baten die Organisator*innen darum, keine Nazi-Vergleiche zu ziehen, keine Straßen zu blockieren oder irgendetwas zu tun, was der neuen Regierung als Steilvorlage dienen könnte. Polizeiminister ist Itamar Ben Gvir, ein Anwalt, gegen den selbst mehr als 50 Mal wegen Aufstachelung zum Hass ermittelt wurde. Ihm wurden bereits vor Unterzeichnung des Koalitionsvertrags sehr weitreichende Weisungsbefugnisse über die Polizei per Gesetz zugesichert. Auch hier ist unklar, ob dies rechtlich zulässig ist. Sicher ist, dass Ben Gvir bereits vor der Demonstration versuchte, der Polizei den Einsatz von Wasserwerfern zu befehlen. Außerdem wollte er das Zeigen von palästinensischen Flaggen untersagen und bekam dafür von der Polizeiführung die Belehrung, dass die Flaggen nicht verboten sind und man Wasserwerfer nur einsetzen werde, wenn das absolut notwendig sei. Ben Gvir drohte daraufhin unverhohlen damit, das Führungspersonal der Polizei abzusetzen.
Regierungspolitiker wie Justizminister Jariv Levon vom Likud berufen sich stets darauf, dass eine Mehrheit der Wähler*innen für die Regierung und ihre Pläne gestimmten haben und in jeder Demokratie die Mehrheit entscheide. Regierungschef Netanjahu wirft den Kritiker*innen gar »undemokratisches Verhalten« vor. Doch im Wahlkampf war von einem derart weitreichenden Umbau des Rechtsstaats zumindest beim Likud keine Rede gewesen. Das zeichnete sich erst im Laufe der Koalitionsverhandlungen ab. Und dann haben die Koalitionsparteien bezogen auf die Zahl der abgegebenen Stimmen weniger als 50 Prozent und bezogen auf die Zahl aller Wahlberechtigten zusammen sogar weniger als 40 Prozent erhalten. Grund dafür ist die 3,25-Prozent-Hürde, die Wahlergebnisse verzerrt. In der Vergangenheit wurde diese Hürde sogar offensiv genutzt: Mit der Gründung von Alibi-Parteien versucht man, dem gegnerischen Lager Stimmen wegzunehmen. In der Folge entsteht der falsche Eindruck eines Links- oder Rechtsrucks. Unterm Strich bleibt festzuhalten: Die Demonstration am Samstag verlief ohne Zwischenfälle.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.