- Berlin
- Ukraine-Krieg und Antikommunismus
Für welche Opfer Odessa steht
Platz in Berlin-Lichtenberg nach Großstadt in der Ukraine benannt
Der Soundcheck der ukrainischen Band Mavka ist beendet und Sängerin Iryna Lazer hat vor Beginn der Veranstaltung noch Zeit, einen Kaffee zu trinken. Dabei passiert ihr ein Missgeschick und sie schüttet sich das Getränk über ihren folkloristischen Rock. Während sich die Künstlerin die Kleidung mit einem Tuch trocken wischt, hält der Bezirksbürgermeister von Berlin-Lichtenberg, Michael Grunst (Linke), das Mobiltelefon der jungen Frau, das auch etwas abbekommen hat.
Ansonsten läuft am Montag zwischen 11 und 12 Uhr an der Treskowallee, Ecke Rheinsteinstraße alles nach Plan. Der kleine Marktplatz an dieser Stelle war bisher namenlos und erhielt nun offiziell die Bezeichnung Odessaplatz – nach Hinweisen aus der ukrainischen Gemeinde allerdings nicht in dieser üblichen deutschen Schreibweise, sondern in der ukrainischen, also Odesaplatz mit nur einem S.
Die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) hatte die Berliner Bezirke gebeten, doch zu prüfen, ob sie nicht Straßen und Plätze nach Orten in der Ukraine benennen können – aus Solidarität mit dem am 24. Februar 2022 von russischen Truppen angegriffenen Staat. Doch diesem Aufruf folgte bisher nur Lichtenberg. Das hiesige Bezirksamt beschloss auf Vorschlag von Bürgermeister Grunst und Verkehrsstadtrat Martin Schaefer (CDU) den Odesaplatz. Auch die Stadt Simferopol auf der 2014 von Russland annektierten Halbinsel Krim spielte in den Überlegungen eine Rolle. Aber es ist dann doch Odessa geworden. Auf die Idee, ausgerechnet diese Stadt am Schwarzen Meer zu nehmen, ist Bezirksbürgermeister Grunst persönlich gekommen. Er war noch nie dort, nicht einmal irgendwo anders in der Ukraine. Nun aber soll er Odessa doch bitte besuchen. Die Einladung des Bürgermeisters durch den Chef der Militärverwaltung von Odessa übermittelt am Montag der ukrainische Gesandte Maksym Yemelianow. Der Gesandte erhält das Privileg, die Verhüllung des Odesaplatz-Schildes feierlich zu lüften. »Es ist für mich und für uns eine große Ehre«, sagt er.
»Vielen, vielen Dank«, sagt Yemelianov für die freundliche Aufnahme von knapp 5000 Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine in Berlin-Lichtenberg. Es sind vor allem Frauen und Kinder, die dort Zuflucht und zum Teil auch Arbeit gefunden haben. »Wir halten durch und wir werden diesen Krieg gewinnen«, betont der Gesandte.
Nach Überzeugung von Bürgermeister Grunst braucht es dafür Medikamente, Lebensmittel – auch Waffen, obwohl er die nicht ausdrücklich nennt – und genauso aber auch Symbole der Unterstützung wie hier durch die Benennung eines Platzes. Der Linke-Politiker wünscht sich Frieden, dass sich die russischen Truppen aus der Ukraine zurückziehen und dass die Russen sich von ihren Autokraten lossagen, also im Klartext auch von ihrem Präsidenten Wladimir Putin. Odessa steht für Michael Grunst beispielhaft für viele umkämpfte ukrainische Städte, die unter russischen Raketenangriffen leiden. Ihn erschüttern die Fernsehbilder von zerstörten Häusern und verletzten und getöteten Zivilisten, ihn erschüttert, »wie gewaltsam« und »mit welcher Brutalität« die russische Invasion erfolgt sei.
Für Mitglieder der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) steht Odessa allerdings für etwas ganz anderes als für Grunst. Sie erinnern rund 30 Meter entfernt von der Zeremonie – sie sind von der Polizei auf diese Distanz verwiesen worden – an das Massaker vom 2. Mai 2014. Damals war am Rande eines Aufmarsches des Rechten Sektors in Odessa ein Nationalist erschossen worden. Daraufhin stürmten Kumpane im Geiste ein Protestcamp, das nach dem Sturz des prorussischen Präsidenten Viktor Janukowitsch seine Zelte in einem Park aufgeschlagen hatte. Vor der gewalttätigen Attacke flüchteten zahlreiche Menschen in das nahe Gewerkschaftshaus und verbarrikadierten sich dort. Das Gebäude wurde dann in Brand gesetzt. Wer nicht in den Flammen starb und nicht aus einem Fenster springen und fliehen konnte, wurde vom tobenden Mob erschlagen oder erwürgt. Unter den mindestens 48 Todesopfern befanden sich zahlreiche, oft noch sehr junge Kommunisten. Die Täter wurden bis heute nicht bestraft.
Mit einem Mann und einer Frau von der marxistischen Organisation Borotba, die seinerzeit ermordet wurden, war Martin Krämer persönlich befreundet, wie er erzählt. Der Historiker hat einen deutschen und einen ukrainischen Pass und stellt sich am Montag an die Seite der DKP. Über die Vorfälle in Odessa sagt er traurig und wütend: »Es ist furchtbar, diese jüdisch-russische Stadt einfach umzumodeln. Das ist das Programm einer ethnischen Säuberung.«
Obwohl der Einsatzleiter der Polizei sie gewarnt hatte, bei einem Zusammenstoß mit erbitterten Ukrainern könne er sie vielleicht nicht schützen, entrollen mit Krämer zusammenstehende Mitglieder der DKP, der Linkspartei, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes und der Kommunistischen Organisation doch ein schwarzes Transparent mit den Losungen: »Erinnert Euch an das Odessa-Massaker vom 2. Mai 2014! Stoppt den von den USA unterstützten Krieg im Donbass! Stoppt die US/Nato-Politik der Konfrontation!« Es gibt noch ein anderes Transparent, das Außenministerin Annalena Baerbock, Wirtschaftsminister Robert Habeck und Agrarminister Cem Özdemir (alle Grüne) per Fotomontage in Tarnfleck-Uniformen zeigt und sie als »Kriegstreiber« tituliert. Doch nicht alle, die mit einem Odessaplatz nicht einverstanden sind, wollen beiseite gehen und lieber auf dem Platz bleiben und die Reden hören. Solange sie keine Transparente zeigen, nicht pfeifen oder anders stören, dürfen sie bleiben, hat ihnen die Polizei erklärt. Halten sie sich nicht daran, wollen die Beamten einschreiten. Doch dazu kommt es nicht.
Zum Widerspruch aufgerufen und vor Ort eine spontane Protestkundgebung angemeldet hat die DKP-Grundorganisation »Rote Platte« aus Marzahn-Hellersdorf. In einer verteilten Protestnote heißt es, die DKP könne den Krieg in der Ukraine, in dem Kumpel und Traktoristen gegen Kumpel und Traktoristen kämpfen, auch nicht befürworten. Jedoch verkenne und verleugne Bezirksbürgermeister Grunst die korrupten Oligarchen, die nationalistischen Brigaden und kriminellen Banden sowie die Zerschlagung und das Verbot marxistischer Organisationen in der Ukraine.
Michael Grunst weist die schweren Anschuldigungen, durch die er sich in böswilliger Absicht in die Nähe von Faschisten gerückt sieht, ruhig, aber entschieden zurück. Auf ein Gespräch lässt er sich unter solchen Umständen nicht ein. Dabei weiß er von den Geschehnissen am Gewerkschaftshaus von Odessa. Er bedauert die damaligen Opfer und betont, mit der Benennung des Odesaplatzes werden doch auf gar keinen Fall die Täter des 2. Mai 2014 gehuldigt. Grunst hätte hier aber auch gar keine Zeit für eine solche Grundsatzdiskussion gehabt. Er verabschiedet sich. Zur Einweihung des Platzes gekommene Ukrainer scharen sich dann noch um Künstlerin Iryna Lazer, die zum Abschluss ein letztes Lied spielt. Sie erklärte zuvor, sie sei seit März vergangenen Jahres in Deutschland und rief »Slawa Ukrainij« (Ruhm der Ukraine).
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