- Wirtschaft und Umwelt
- Rentenreform in Frankreich
Richtig brutal für die Älteren
Gewerkschafter Maher Tekaya über Proteste gegen die Rentenpläne der französischen Regierung
Alle großen Gewerkschaften Frankreichs rufen für diesen Donnerstag zu einem landesweiten Streik- und Aktionstag gegen die von der Regierung geplante Rentenreform auf. Warum konzentrieren Sie Ihre Kritik auf das Renteneintrittsalter, das von bisher 62 auf 64 Jahre angehoben werden soll?
Maher Tekaya ist Sekretär für Internationale Angelegenheiten der Confédération française démocratique du travail (CFDT). Sie ist mit fast 900 000 Mitgliedern der größte Gewerkschaftsdachverband in Frankreich.
Die Erhöhung des Eintrittsalters ist bei einer Reform des Rentensystems die ungerechteste aller nur denkbaren Maßnahmen. Sie trifft vor allem die schwächsten Arbeiter, die am wenigsten qualifiziert sind, die niedrigsten Löhne und die prekärsten Arbeitsverträge haben. Hier wird deutlich, dass schon der Begriff Rentenreform unzutreffend ist, denn es handelt sich eigentlich um eine Reform der öffentlichen Finanzen, die auf dem Rücken der Arbeitnehmer und auf Kosten ihrer Renten vollzogen werden soll.
Sind nicht auch die Altersgruppen unterschiedlich betroffen?
Ja. Diejenigen, die aufgrund einer Berufsausbildung oder eines Studiums erst mit 21 Jahren oder noch später ins Berufsleben eintreten, haben nicht viel zu befürchten. Dagegen trifft es stärker die Jüngeren, die gleich nach der Schule zu arbeiten beginnen und die als Unqualifizierte sowieso schlechtere Karten haben. Richtig brutal ist die Reform für die Älteren, die kurz vor der Rente stehen. Einer sagte mir dieser Tage: »Ich fühle mich wie ein Marathonläufer, der schon auf der Zielgeraden ist und dem man sagt, er muss jetzt noch zwei Kilometer weiterlaufen.« Es ist doch schizophren – wir sollen alle länger arbeiten, aber von den über 55-Jährigen haben nur noch 56 Prozent einen Job. Die Unternehmen drängen die Senioren raus und die sind dann bis zur Rente auf Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe angewiesen. Wenn man das unterbinden und die Unternehmen zwingen würde, die Senioren bis zuletzt zu beschäftigen, gäbe es das Defizit der Rentenkassen, aufgrund dessen die Reform angeblich nötig ist, überhaupt nicht.
Aber hat nicht die Regierung ihre Pläne im Vergleich zum ersten Anlauf 2018 nachgebessert und dabei auch Vorschläge der Gewerkschaften aufgegriffen?
Ja, aber das, was die Regierung »begleitende soziale Maßnahmen« nennt, sind in Wirklichkeit nur »Maßnähmchen«. Das reicht von einer geringfügig angehobenen Mindestrente über eine stärkere Anrechnung eines sehr frühen Berufseintritts oder besonders belastender Arbeitsbedingungen bis hin zum Abbau der Ungleichbehandlung von Männern und Frauen. Aber all das soll nur eine Stimmung schaffen, in der die Regierung ihr Hauptziel erreicht: das höhere Renteneintrittsalter durchzusetzen.
Sieht denn Ihre Gewerkschaft, die CFDT, keine Notwendigkeit für eine Reform des Rentensystems? Schließlich ist doch die Lebenserwartung gestiegen und immer weniger Arbeitende müssen die Rente für immer mehr Alte finanzieren.
Natürlich ist das ein Problem, aber erst nach dem Jahr 2030, sodass man nichts überstürzen muss und sich die Zeit für eine gründliche Vorbereitung und eine konstruktive Abstimmung unter allen Beteiligten nehmen kann. Natürlich wollen wir auf jeden Fall das Solidarprinzip der Rente erhalten und sichern, aber es muss gerecht für alle sein. Darum fordern wir seit Jahren, eine Korrektur über die Anrechnungszeiten der Beiträge vorzunehmen, finanziell die Unternehmen stärker in die Pflicht zu nehmen und die Rentenansprüche durch ein Punktesystem zu errechnen, das auch Brüche oder Lücken im Berufsleben gerechter als heute behandelt.
Erwarten Sie, mit Streik- und Aktionstagen die Regierung zum Einlenken zu zwingen?
Der 19. Januar ist nur ein Anfang, weitere solche Tage werden folgen. Die Einheitsfront aller Gewerkschaften ist eine neue und gewichtige Dimension des Kampfes. Gemeinsam haben wir auch eine Petition gegen die Rentenreform und das höhere Eintrittsalter gestartet, die hoffentlich von Millionen Franzosen unterzeichnet werden wird. Es steht eine soziale Explosion bevor wie im Herbst 1995, als schon einmal Rentenreformpläne wochenlange Streiks ausgelöst und die damalige Regierung (des konservativen Premierministers Alain Juppé, d. Red.) letztlich zum Rückzug gezwungen haben.
Die jetzige Regierung könnte mit Unterstützung der rechten Oppositionspartei der Republikaner oder mithilfe des Ausnahmeparagrafen 49.3, der das Projekt mit der Vertrauensfrage verbindet, ihre Pläne durchsetzen.
Das kann man nicht ausschließen, aber das könnte weitreichende politische Folgen haben, die der Präsident und seine Regierungschefin bedenken müssen. Die Unzufriedenheit unter den sozial Schwächsten könnte dann über die verbreitete Politikverdrossenheit hinaus den populistischen Rechtsextremen in die Hände spielen und ihnen – wie schon in anderen europäischen Ländern – den Weg zur Macht ebnen.
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