Stört Deine Behinderung eigentlich beim Sex?

Bei behinderten Menschen scheint es einen anderen Maßstab für Tabu-Themen und Privatsphäre zu geben, kritisiert Greta Niewiadomski

  • Greta Niewiadomski
  • Lesedauer: 5 Min.
Privatsphäre – Stört Deine Behinderung eigentlich beim Sex?

Um mich herum ist laute Musik, Menschen tanzen und es liegt ein warmer Schweißgeruch in der Luft. Ich befinde mich auf einer Hausparty in einer Hamburger Studierenden-WG und kenne hier kaum jemanden. Plötzlich tippt mir jemand von der Seite an die Schulter. Es ist eine junge Frau, die ich noch nie gesehen habe, aber ich freue mich über jeden Kontakt in diesem Großstadt-Dschungel. »Darf ich Dich mal was fragen?«, erkundigt sie sich.

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Na toll. Das kenne ich schon. Meistens kommt dann sowas wie »Wie hast Du Deine Hand verloren?«, »Tut das weh?« oder auch ganz plump: »Darf ich den Stumpf mal anfassen?« – worauf dann teilweise sogar angeekelte Gesichtsausdrücke folgen. Nein danke. Meinen Selbstwert hat so etwas in der Vergangenheit nicht wirklich aufgepäppelt. Doch, dass die folgende Frage an Dreistigkeit kaum zu überbieten ist, sollte ich ein paar Sekunden später feststellen: »Wie führst Du Dir eigentlich einhändig einen Tampon ein?«

Wie bitte? Ich war verletzt. Und schockiert. So etwas würde ich niemals eine fremde Person fragen. Aber anscheinend stellt meine sichtbare Behinderung eine Art Freifahrtschein dafür da, sich wortwörtlich über die Tiefen meiner Vulva zu erkundigen. Und natürlich fallen mir die wirklich guten Antworten erst Tage später ein. Zu tief sitzt die Empörung und die Traurigkeit. Mehr als ein rechtfertigendes »Das kann ich schlecht erklären, aber es funktioniert ganz gut«, bekomme ich nicht über die Lippen. Die Tränen über diese Bloßstellung kann ich noch bis zur nächsten Toilette verbergen. Für alle, die sich jetzt denken, dass es sich dabei um einen Einzelfall handelt: Nein, es ist nur ein Beispiel von vielen.

Aber es zeigt dennoch, dass es bei behinderten Menschen einen anderen Maßstab für Tabu-Themen und Privatsphäre zu geben scheint. Als würden wir die Legitimität wie Haarspray versprühen, sich über unser (Sex-)Leben zu erkundigen und sich eine Intimität zu erlauben, die normalerweise Fremdscham auslöst.

Erst jetzt – Jahre später – fällt mir auf, was das Problem war. Nicht ich. Nicht die junge Frau, die sich selbst nicht darüber im Klaren war, was sie mit ihrer Frage anrichtet. Sondern eine ableistische Gesellschaft und ein System, welches ständig versucht, Behinderungen zu verschleiern oder ein Bild zeichnet, das uns hilflos erscheinen lässt und uns jegliche Sexualität oder Eigenständigkeit abspricht. Was soll das?

Diskriminierungserfahrungen sind hochemotional. Und die Reaktionen oder die Wahrnehmung dieser sind individuell unterschiedlich. Doch gleichzeitig zeigen sie strukturelle Probleme auf, über die wir sprechen müssen.

Nicht selten liest man beispielsweise von Gehbehinderten, die offen und ohne Ankündigung über ihr Sexleben, ihre eigene Lust oder sogar genaue Praktiken ausgefragt werden – alles Dinge, die wir teilweise nicht mal über unseren engeren Bekanntenkreis wissen. Und zurecht empörte Reaktionen werden dann mit einem skurrilen »Ich frag ja nur!« abgetan. Nein, Du fragst nicht bloß. Du unterstellst fremden Menschen eine Lebensweise, die Du bestätigt haben willst. Das ist offene Diskriminierung und sollte auch so benannt werden. Denn bei einem ehrlichen Interesse appelliere ich an eine gewisse Empathie, die uns schnell feststellen lässt, dass es für solche Fragen wenigstens einen gewissen Grad an Bekanntschaft braucht. Und eben auch genau diese Fragen können gefährlich sein, wenn sie zu weiterfolgenden Taten führen – bis hin zu ungefragten Berührungen und anderen körperlichen Übergriffen.

Das Intim- und Privatleben von Menschen mit Behinderungen scheint also für Nicht-Behinderte eine Faszination in sich zu haben. Vielleicht, weil ihre eigene Vorstellungskraft dafür schlichtweg nicht ausreicht. Aber drehen wir den Spieß doch einfach mal um: Der Behindertenrechtsaktivist Raúl Krauthausen twittert dazu, wie absurd es wäre, wenn wir dieselben Fragen etwa Nicht-Behinderten stellen würden: »Ist Dein*e Partner*in auch nicht-behindert? (Wie) könnt ihr dann Sex haben?« Genau! Das ergibt keinen Sinn. Und ist auch einfach übergriffig.

Ein weiteres Phänomen in diesem Kontext ist erwähnenswert: die Fetischisierung. Denn während uns von vielen Seiten eine eigene Lust oder ein Sexualleben abgesprochen wird, werden wir von anderer Seite als Sexobjekte genutzt. Und ich kann aus eigener Erfahrung sagen, wie ekelhaft und schockierend es ist, wenn man versucht, offen mit seiner Behinderung umzugehen und sich dann im Internet auf illegalen Seiten wiederfindet, die die eigenen Bilder ungefragt als Wichsvorlage missbrauchen.

Nun wissen wir, dass so etwas passieren kann. Und das tut weh. Aber wie können wir dann Kindern Mut machen, sich offen mit ihrer Behinderung zu zeigen und auch stolz darauf zu sein? Bei mir hat diese Tatsache lange dazu geführt, dass ich versucht habe, meine Behinderung möglichst zu verstecken. Auch heute greife ich im Internet und bei Öffentlichkeitsauftritten auf eine Prothese zurück, die wie eine Schutzschicht fungiert. Doch sie ist eben auch kein echtes Körperteil.

Außerdem bin ich in diesem Bereich die Privilegierte unter den sichtbar Behinderten, denn nicht alle haben die Möglichkeit, ihre Behinderung zu verstecken oder mit futuristischen Gadgets zu überdecken. Wann immer wir also mitbekommen, dass eine Person ohne ihre Zustimmung übermäßig sexualisiert wird oder jemand unangemessene, intime Fragen gestellt bekommt, dann hilft nur eins: Zivilcourage.

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