Untragbares Kabinettsmitglied entlassen

Israels rechtsextreme Koalitionsregierung attackiert die Grundprinzipien des demokratischen Systems und will Minderheitenrechte aushebeln

  • Oliver Eberhardt
  • Lesedauer: 4 Min.

»Warum, bitteschön?«, fragte Esther Hayut, Präsidentin des Obersten Gerichtshofs, die Vertreter der Regierung mit hochgezogenen Augenbrauen. Eine der Anwältinnen zog kurz die Schultern hoch und sagte nichts. Musste sie auch nicht, denn die Fassunglosigkeit der israelischen Justiz, der Polizei, des Militärs, der Ärzteschaft, eigentlich aller, ist in diesen Tagen allgegenwärtig, wird immer wieder angesprochen, wenn man mit Leuten spricht. Es herrsche ein Ausverkauf des Rechtsstaats, der Demokratie, sagte Hayut vor Kurzem auf einer Tagung, während in ihrem Gericht auf Hochtouren gearbeitet wird: Man wolle wegschaffen, was noch irgendwie geht, sagen ihre Mitarbeiter*innen, bevor von der anderen Straßenseite, aus der dem Obersten Gerichtshof gegenüberliegenden Knesset, Gesetze kommen, die das höchste Gericht des Landes daran hindern könnten, die Aufgabe zu erledigen, die ihm in der Unabhängigkeitserklärung 1948 zuerkannt wurde.

Und zumindest die rechtsradikalen Akteure, ein unter dem Namen »Religiöser Zionismus« fungierendes Parteienbündnis, haben einiges vor, was die Natur des Staates, die gesellschaftliche Balance stark verändern würde. Und sie haben die gut 62 Prozent der Staatsbürger*innen, die die neue Regierung nicht gewählt haben, in Aufruhr versetzt. Umfragen zufolge auch 70 Prozent derjenigen, die für den Likud gestimmt haben, die stärkste Fraktion in der Koalition.

Ohne Genehmigung gebaute Siedlungen sollen legalisiert, Unternehmen und Ärzteschaft ermächtigt werden, bestimmte Bevölkerungsgruppen von ihren Dienstleistungen auszuschließen. Militär und Polizei sollen härter gegen linke und palästinensische Demonstrant*innen vorgehen. Das öffentliche Leben am jüdischen Ruhetag Schabbat soll auch in überwiegend von säkularen Menschen bewohnten Gebieten fast vollständig heruntergefahren werden. Und auch die weltbekannte Gay Pride Parade in Tel Aviv und die weniger bekannte Parade in Jerusalem würden die Rechtsradikalen am Liebsten verbieten. Und immer wieder versucht Polizeiminister Itamar Ben Gvir, gegen den mehr als 50 Mal wegen Anstachelung zum Hass und anderen Vorwürfen ermittelt wurde, Polizei und Militär vorzuschreiben, gegen wen sie wann wie vorzugehen haben.

Eine Rechtsgrundlage gibt es dafür kaum, und immer wieder versuchen die Politiker*innen des Likud zu besänftigen und abzuwiegeln: Er werde die Einflussnahme auf das Militär stoppen, sagte Verteidigungsminister Joav Galant. Er werde keinerlei Versuche durchgehen lassen, die Rechte von LGTQIA+-Menschen einzuschränken, versicherte Regierungschef Benjamin Netanjahu auf einem Treffen mit Interessengruppen. »Ja, aber warum setzt man sich dann mit solchen Leuten in eine Regierung?«, fragte Menachem Kochavi, ein Aktivist, verzweifelt in einer Diskussionsrunde, als eine Vertreterin des Likud wieder mal behauptete, man werde die Demokratie stärken.

Was das bedeutet, davon bekommt man eine Ahnung, wenn man zwischen den Zeilen liest: Die Mehrheit habe für diese Regierung gestimmt, lautet die Sprachregelung im Likud derzeit und die Mehrheit habe eben das Sagen. So funktioniere Demokratie. Nur: Israel ist auf Leben und leben lassen aufgebaut, auf einem Miteinander der vielen verschiedenen Bevölkerungsgruppen, einem »Nebeneinander des Rechts auf Freiheit der Religion und des Rechts auf Freiheit von Religion«, wie es in einem der vielen Entwürfe für eine Verfassung heißt, die im Laufe der israelischen Geschichte ausgearbeitet wurden und von denen keiner je Gesetz wurde. 1997, beim letzten Anlauf, monierte Netanjahu in einer Parlamentsdebatte, jegliche Verfassung könne die Rechte eine Gesellschaftsgruppe zugunsten einer anderen einschränken.

Stattdessen wachte, das war stets Konsens, der Oberste Gerichtshof darüber, dass auch die Politik die Grundzüge der Unabhängigkeitserklärung und der daraus resultierenden »Grundgesetze« einhielt. Dessen Urteile soll die Knesset demnächst mit einer Mehrheit von 61 Stimmen einkassieren dürfen. Zudem sollen die Richter*innen von der Regierung ernannt werden. Aber noch sind die obersten Richter in der Lage, ihre Wächterfunktion wahrzunehmen. So hat das Oberste Gericht die Ernennung von Arie Deri zum Gesundheits- und Innenminister für ungültig erklärt. In einer Entscheidung mit zehn zu eins Stimmen befanden die Richter am Mittwoch, Ministerpräsident Benjamin Netanjahu müsse Deri aufgrund seiner Verurteilung wegen Steuerflucht »von seinem Posten entfernen«; der Nachrichtenagentur dpa zufolge stuften sie die Ernennung als »unangemessen« ein.

Deris ultraorthodoxe Schas-Partei sprach von einer »nie dagewesenen« und »politischen« Entscheidung. In einem gemeinsamen Statement kündigten die Koalitionsparteien an, »ohne Verzögerung« alle rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, »um diese Ungerechtigkeit zu beheben«. Arie Deri hatte im vergangenen Jahr Steuerflucht eingeräumt, eine Geldstrafe von umgerechnet etwa 50 000 Euro erhalten und seinen Parlamentssitz abgegeben. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat am Sonntag seine Entlassung als Minister bekannt gegeben.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.