- Wissen
- EINE WAR’S #294
Im Spiegel der Täuschung
In unserem monatlichen Rätsel suchen wir eine Frau, deren Leben von Lügen durchzogen war
Eine Frau stirbt. Ihr Sohn verhält sich auffällig und gerät unter Verdacht. Ermittlungen werden eingeleitet, der Leichnam wird untersucht. Gegen den leitenden Rechtsmediziner werden kurz darauf Plagiatsvorwürfe laut. Der renommierte Wissenschaftler soll in den 80er Jahren aus dem Sammelband »Colchicine – 100 years of research« abgeschrieben haben, der über ein Symposium von 1981 in Rumänien erschienen sein soll. Colchicin ist das Gift einer Pflanze, der Herbstzeitlosen. Das Vorwort dazu soll die heute gesuchte Person verfasst haben. Doch nichts ist, wie es scheint. Im Raum steht der Verdacht, dass es sich bei dem Original um eine Fälschung handelt. Fabriziert haben könnte sie der verdächtige Sohn, um dem Rechtsmediziner die Plagiatsvorwürfe anzuhängen.
Was wie ein wilder Wissenschaftskrimi klingt, ist in Bayern vor kurzem wirklich passiert. Der »Spiegel« recherchierte die Geschichte und veröffentlichte sie Mitte Januar unter der Überschrift »Die Täuschung«. Darin wird die Verfasserin des Vorworts von »Colchicine« als »promovierte Chemikerin« bezeichnet. Auch hier sollten wir uns nicht täuschen lassen. Formal verfügte die Rumänin über den Titel. Doch wer genauer hinschaut, wie es der Podcast »HerStory – starke Frauen der Geschichte« getan hat, stellt schnell fest: Ihre akademische Karriere fußte weniger auf großen Erkenntnissen als auf großer Macht. Diese erhielt die Frau, die aus bäuerlichen Verhältnissen stammte, indem sie 1945 einen Kommunisten heiratete. Er war einflussreich und sie ehrgeizig, ihm in nichts nachzustehen. Als er in der Partei aufstieg, wollte sie nicht mehr nur Gehilfin in einem Chemielabor sein, sondern einen Studienabschluss. Wie kam sie daran? Mithilfe seiner Parteifreunde: Der Bildungsminister schuf kurzerhand ein Fernstudium der Chemie an der Universität Bukarest. Dieses schloss die Frau, die bis dahin nur drei Jahre Grundschulbildung genossen hatte, in kürzester Zeit ab. Sie wurde Chemieingenieurin. »Man kann oder man muss vermuten, dass hier sehr stark nachgeholfen wurde«, sagt Jasmin Lörchner, Podcast-Host von »HerStory«. Die Lügen ziehen sich durch die gesamte Laufbahn dieser »Mutter der Nation« – die als Schönheit galt, aber angeblich watschelte. Ihre Doktorarbeit behandelt »Die stereospezifische Polymerisation von Isopren«. Angefertigt wurde sie vermutlich von den Chemikern Osias Solomon und Radu Bordelanu. Und die 20 Patente, die bis heute auf ihren Namen laufen, entwickelten wohl die jeweiligen Mitautor*innen. Der Westen fiel zeitweise auf die »Gelehrte von Weltruhm« herein, mehrere Universitäten verliehen ihr Ehrentitel.
Und sie mogelte nicht nur in der Wissenschaft. Mit der Hochzeit hatte sie auch ihren Vornamen geändert und ihr Geburtsjahr von 1916 zu 1919 gefälscht, um sich jünger zu machen als ihr Mann. Dieser bezeichnete sich selbst einmal als »Genie der Karpaten«. Bei einem Fest soll er auf den Tisch gesprungen sein und dann auf die Austern gepinkelt haben. Das Paar hatte drei Kinder. Auch in der Familienpolitik richtete sie Schaden an, aber das ist eine andere Geschichte. Am 25. Dezember 1989 wurden die Diktatorin und der Diktator in einem Scheinprozess zum Tode verurteilt und 30 Minuten später erschossen.
Antworten an: nd.Die Woche, Steckbrief, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin oder an: steckbrief@nd-online.de
LÖSUNG #293 vom 31. Dezember
Bei unserem letzten Steckbrief fragten wir nach einem Verhütungsmittel (Pille) für den Mann.
Der Preis für das aktuelle Rätsel: Glitzer im Kohlestaub. Vom Kampf um Klimagerechtigkeit und Autonomie. Von Zucker im Tank (Hg.), Verlag Assoziation A, 412 S.
Einsendeschluss: 17.2.2023
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