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Immer aufs Ganze
Die türkische Außenpolitik unter Präsident Erdoğan kennt keine leisen Töne
Ein diplomatisches Auftreten zählt eher nicht zu den Stärken des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Wenn er etwas will (oder nicht will), schert er sich wenig um Gepflogenheiten oder mögliche internationale Verwicklungen. Kurzerhand wurde vergangene Woche der schwedische Verteidigungsminister ausgeladen, weil bei einer rechtsextremistischen Kundgebung vor der türkischen Botschaft in Stockholm ein Koran verbrannt worden war. »Wenn ihr der türkischen Republik oder dem religiösen Glauben der Muslime keinen Respekt zollt, dann könnt ihr von uns in Sachen Nato auch keine Unterstützung bekommen«, sagte Erdoğan am Montagabend in Ankara. Und am Freitag sollte er in Berlin auflaufen, kam aber doch nicht. Die Gründe sind unklar. Die Bundesregierung hält sich bedeckt, eine Sprecherin sagte dem »nd«, der Besuch sei nie offiziell angekündigt worden.
Was nach launischen Eskapaden aussieht, gehorcht jedoch einer Logik: In der Außenpolitik trifft der türkische Präsident nicht selten spontane Entscheidungen, zumeist ohne Rücksicht auf Verluste. Im Sinn hat er dabei auch sein politisches Überleben bei den Wahlen am 14. Mai. Dafür legt er sich sogar mit den Nato-Verbündeten an. Als Finnland und Schweden bald nach Beginn des Ukraine-Krieges um Aufnahme in die Nato ersuchten, legte die Regierung in Ankara ein Veto ein und diktierte ihre Bedingungen: Aufhebung des Waffenembargos gegen die Türkei und Auslieferung kurdischer Aktivist*innen, die für Erdoğan pauschal als »Terroristen« und PKK-Mitglieder gelten.
Die lauwarme Reaktion der Nato-Mitglieder auf den Erpressungsversuch der Türkei war kläglich. Die schwedische Regierung machte kurzerhand Schluss mit einer langen Tradition als sicherer Zufluchtsort für politisch Verfolgte und verhaftete im August einen Kurden, dem der schwedische Geheimdienst Verbindungen zur PKK vorwirft. Finnland hat erstmals seit 2019 den Export von Rüstungsgütern in die Türkei genehmigt. Zurück bleibt der Eindruck, dass die Nato nach der Pfeife Erdoğans tanzt.
Das übersteigerte außenpolitische Selbstbewusstsein der Türkei lässt sich auch an symbolischen Akten ablesen, so an der Forderung an die internationale Gemeinschaft, die Türkei künftig mit ihrem türkischen Namen zu bezeichnen: Türkiye. Dass der Landesname auf Englisch »Turkey« auch Truthahn bedeutet, war kaum der Grund. Vielmehr hält sich die Türkei für zu mächtig für eine subalterne Position im internationalen Machtgefüge. Man bereitet sich auf das 100-jährige Jubiläum der türkischen Republik im Herbst vor, und das will Erdoğan höchstpersönlich als Präsident gestalten.
Die Türkei ist an vielen Fronten aktiv, meistens mit dem Brecheisen, um die eigenen Ziele zu verfolgen. Mit der Umgestaltung des politischen Systems zu einer Präsidialregierung hat sich auch die türkische Außenpolitik gewandelt; seitdem geht Erdoğan überall aufs Ganze. Sichtbar aggressiver und nationalistischer, antiwestlicher und prorussischer sei das Land geworden, schreibt der Außenpolitikexperte İlhan Uzgel. Und vor allem: Die Außenpolitik der Türkei sei »militarisiert« worden. Die türkische Armee war in den vergangenen Jahren in eine Reihe von Militäreinsätzen involviert: in Nordsyrien und im Nordirak gegen die autonomen Kurdengebiete, im libyschen Bürgerkrieg als Protektoratsmacht der international anerkannten Regierung und mit der Lieferung von Drohnen an Aserbaidschan im Krieg um Bergkarabach gegen Armenien.
Damit nicht genug, ging die Regierung in Ankara auf Konfrontationskurs mit den beiden Golfmonarchien Saudi-Arabien und Vereinigte Arabische Emirate (VAE), drohte dem Nato-Partner Griechenland sogar mit Krieg im Streit um Ägäis-Inseln und Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer. »Wenn die Zeit kommt, werden wir tun, was nötig ist«, hatte der türkische Präsident Erdoğan gesagt, »wir können plötzlich über Nacht kommen.«
Seit die Türkei sich stärker an Russland anlehnt und die Sanktionen gegen Moskau wegen des Angriffskrieges gegen die Ukraine nicht mitträgt, spekulieren westliche Regierungen, ob Erdoğan komplett mit dem Westen brechen und die Türkei dafür zur regionalen Hegemonialmacht machen will – mit einer besonderen Beziehung zu Russland. Die Idee ist, die Türkei zu einem Logistikhub zu machen, speziell für Russland: als Transitland, als Urlaubsziel, als Energieverteiler für Westeuropa. Die Türkei deckt ihren Gasbedarf mittlerweile vor allem mit russischem Erdgas, die beiden Länder sind also schon jetzt eng miteinander verbunden. Das hindert Ankara jedoch nicht daran, als Mittler im Ukraine-Krieg aufzutreten – nicht ohne Erfolg, wenn man an die Lieferungen ukrainischen Getreides über das Schwarze Meer denkt. Das könnte Erdoğan auch innenpolitisch nutzen. Aber Frieden zwischen den Kriegsparteien zu erzwingen, so weit reicht sein Einfluss dann doch nicht.
Auch wenn die Türkei die EU und den Westen immer vor sich hertreibt, damit droht, die in der Türkei gestrandeten syrischen Flüchtlinge nach Europa durchzuwinken – entgegen dem Flüchtlingsdeal –, und diese als Verhandlungsmasse instrumentalisiert, ist beiden Seiten klar, dass sie kaum ohne einander können. Die Türkei hat sich eingerichtet in der Nato und spielt dort ihre Macht aus. Und die Nato? Die kann auf die Türkei nicht verzichten wegen ihrer exponierten geostrategischen Lage an der Grenze zu Syrien, dem Irak und dem Iran.
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