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Zittauer Macht- und Marktergreifung

In der ostsächsischen Stadt zeigt ein bemerkenswertes Ausstellungsprojekt, wie die NS-Diktatur abseits der Metropolen errichtet wurde

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 8 Min.
Schloss in Hainewalde. Dort errichteten die Nazis im März 1933 ein »Schutzhaftlager« für politische Gegner. Jetzt will ein Verein mit einer Ausstellung daran erinnern.
Schloss in Hainewalde. Dort errichteten die Nazis im März 1933 ein »Schutzhaftlager« für politische Gegner. Jetzt will ein Verein mit einer Ausstellung daran erinnern.

An dem Montag, als die NS-Diktatur begann, ging das Leben in Zittau seinen gewohnten und eher unspektakulären Gang. In Berlin war am 30. Januar 1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt worden. In der 250 Kilometer entfernten Provinzstadt an der Grenze zur Tschechoslowakei sorgte das nicht für öffentlich wahrnehmbare Aufwallungen. Zwei Tage später allerdings gab es eine große Feier. Am 1. Februar war der Reichstag aufgelöst worden. Am Abend jenes Tages versammelten sich Mitglieder und Anhänger der NSDAP in den Zittauer Kronensälen. »Das war eine pompöse Veranstaltung«, sagt Peter Knüvener, Leiter des Städtischen Museums. Auch die Wochen danach seien von üppigen Machtinszenierungen geprägt gewesen. Ab März 1933 aber wurden andere Saiten aufgezogen. »Nun ging es Schlag auf Schlag«, sagt Knüvener. Mitarbeiter in Behörden und Institutionen wurden ausgetauscht, Bücher verbrannt, politische Gegner inhaftiert. Die parlamentarische Demokratie musste der Diktatur weichen – auch in der Kleinstadt im östlichsten Zipfel des Reichs.

Wenn es um Marksteine und Wendepunkte der Geschichte geht, stehen oft die Metropolen im Blickpunkt. Die »Machtergreifung« der Nationalsozialisten und das Ende der Weimarer Republik werden in den Geschichtsbüchern markiert von Ereignissen, die sich in Berlin zutrugen: die Ernennung Hitlers durch Reichspräsident Paul von Hindenburg, der Reichstagsbrand in der Nacht vom 27. zum 28. Februar, der Beschluss über das Ermächtigungsgesetz, das Ende März alle Macht vollständig auf den »Führer« übertrug. Doch die Errichtung der Diktatur war »kein Prozess, der nur weit entfernt stattfand«, sagt Knüvener. Sie konnte im Gegenteil nur erfolgen, weil die Nationalsozialisten ihre Macht auch jenseits der Zentren sicherten. Wie das ganz praktisch geschah, wollen der Museumschef und viele Mitstreiter »am lokalen Beispiel minutiös aufarbeiten und darstellen«. So steht es in der Konzeption für das bemerkenswerte Projekt »Zittau ’33«, das mit einer Sonderausstellung im Museum sowie mit Theater, Kultur, Vorträgen und Führungen in den nächsten Monaten möglichst anschaulich und konkret von der »Machtergreifung in der südlichen Oberlausitz« berichten will.

Dass diese sehr schnell auch im kleinsten Dorf erfolgte und zudem mit brutaler Gewalt vorangetrieben wurde, wird in Hainewalde klar, einem Ort zehn Kilometer von Zittau entfernt. Zwischen Umgebindehäusern und Kirche erhebt sich oberhalb des Flüsschens Mandau, eines idyllischen Parks und steiler Terrassen ein Schloss, das einst als »Sanssouci der Oberlausitz« gerühmt wurde. Mit Machtantritt der Nazis wurde es zu einem Ort des Schreckens. Am 27. März 1933 sei im Schloss, an dessen hoch aufragender Fassade ein Zierfenster mit dem freundlichen Gruß »Salve!« durch ein monströses Hakenkreuz überdeckt wurde, ein sogenanntes »Schutzhaftlager« eingerichtet worden, sagt Jan Zimmermann, Vorsitzender des Schlossvereins. Hier sperrten die Nazis politische Gegner und anderweitig Missliebige ein, demütigten und schikanierten sie. Nach außen hin versuchten sie den schönen Schein zu wahren: Postkarten, die Gefangene nach Hause schicken durften, zeigten Männer mit Harken und Gießkannen in den Blumenrabatten des Schlossparks. Tatsächlich seien die Häftlinge auf umliegenden Feldern als »menschliche Zugtiere« missbraucht worden. Auch Folter habe es gegeben. »Die Schreie muss man bis ins Dorf gehört haben«, sagt Zimmermann. Die Wachmannschaften hätten teils so unmenschlich agiert, dass sich Anwohner beschwerten.

Die NS-Geschichte des Schlosses Hainewalde, das nach Schließung des Lagers im August 1933 der »Wehrertüchtigung« diente, war nie vergessen. Eine Bronzetafel aus der DDR-Zeit ist dem »Gedenken an die Kämpfer gegen den Faschismus« gewidmet, die hier einst eingekerkert waren. Der Schlossverein, dessen Mitglieder sich seit 22 Jahren ehrenamtlich um die Sanierung des zwischenzeitlich stark heruntergekommenen Bauwerks kümmern, versetzte sie von einem unansehnlichen einstigen Appellplatz an die Schlossmauer. Bei Führungen im Inneren zeigen Zimmermann und seine Mitstreiter neben architektonischen Details, herrschaftlichem Mobiliar und alten Gemälden auch Überreste einer Ausstellung aus den 1980er Jahren über das, wie es hieß, »KZ Hainewalde«. Das Projekt »Zittau ’33« wird jetzt indes zum Anlass genommen, Wissenschaftler noch einmal gründlich in Archiven recherchieren zu lassen, um beispielsweise Schicksale einzelner Häftlinge näher beleuchten zu können. Ziel ist es, im September eine fundierte Dauerausstellung zur Lagerzeit zu eröffnen. Das Schloss solle dabei »keine klassische Gedenkstätte werden«, betont Zimmermann. Gleichwohl, fügt er an, seien die NS-Jahre »ein prägender, finsterer Bestandteil seiner Geschichte«, der auch an einem so malerischen Ort nicht verschwiegen werden dürfe.

Der einstige Herrensitz in Hainewalde ist ein Schauplatz von »Zittau ’33«, ein anderer ist das Theater am Rand der historischen Zittauer Altstadt: ein flacher Bau mit breiter Freitreppe und zart gegliederten Fensterbändern über dem Portal, der neben den vielen baulichen Zeugnissen aus Renaissance, Barock und Gründerzeit nüchtern wirkt. Bei seiner Einweihung im September 1936 sei er indes von den Nationalsozialisten mit viel Pathos als »neues Bollwerk deutscher Kultur« gefeiert worden, sagt Ingo Putz. Der Schauspieldirektor des heutigen Gerhart-Hauptmann-Theaters zitiert einen Zeitungsartikel im örtlichen NSDAP-Amtsblatt »Zittauer Nachrichten«, der die Eröffnung als Propagandaspektakel unter einem Meer von Hakenkreuzfahnen darstellte. Zwar war dem »Führer« das kulturelle Großereignis in der Provinz nur ein Telegramm wert; er selbst weihte stattdessen ein Stück neue Autobahn ein. Gleichwohl wurde die Eröffnung des Hauses, das einer von nur drei Theaterneubauten in der NS-Zeit war, »ideologisch ausgeschlachtet«. Davon zeugte bereits der Name »Grenzlandtheater«, der es als Bastion gegen vermeintliche Unkultur ausweisen sollte, auch wenn er, wie Putz anmerkt, den eigentlichen Zielen der Nazis in kurioser Weise widersprach: »Die wollten ja ›Raum im Osten‹ erobern und germanisieren. Dann wäre Zittau gar kein Grenzland mehr gewesen.«

An Beispielen wie dem Theater lässt sich zeigen, dass ein Regime wie die NS-Diktatur sich alle Bereiche des Lebens unterwarf. Zunächst brachten die Nazis auch in Zittau Verwaltung, Justiz oder die Polizei auf Linie, indem sie beispielsweise dem Amtshauptmann Hermann Kahmann, einem Sozialdemokraten, die Befehlsgewalt entzogen, ihn ins Gefängnis steckten und durch eigene Parteigänger ersetzten. Doch auch im Kulturbereich griffen sie rigide durch. »Die ›Arisierung‹ der Theater beispielsweise wurde sehr schnell vollzogen«, sagt Putz: Jüdische Schauspieler durften nicht mehr auftreten. Auch wurden Stücke vieler Autoren aus den Spielplänen gestrichen. Theater sei fortan weniger als Kunst denn als »wichtiger Bestandteil der Propaganda« verstanden worden.

Solche Prozesse sind in Büchern immer wieder beschrieben worden. In Zittau sollen sie demnächst auch für das Theaterpublikum sinnlich zu erfahren sein. Putz und seine Kollegen erarbeiten eine »szenische Installation zur Machtergreifung«, die am 1. April Premiere hat, die Besucher auf einen Parcours quer durch das Haus schickt und in Probenräumen und Kantine, in Büros und auf der Bühne erleben lassen soll, wie die NS-Machthaber ein Theater planten, wie sie klassische Stoffe für ihre Zwecke instrumentalisierten oder wie die Diktatur in den Alltag einsickerte. »Da wurden ja auch viele niedere Motive offenbar«, sagt der Schauspieldirektor: »Durch Denunziation ließen sich Konkurrenten um begehrte Rollen ausschalten.«

Die Theaterinszenierung ist nur eines von vielen Beispielen dafür, wie das Projekt »Zittau ’33« jenseits einer Sonderausstellung im Städtischen Museum und der künftigen Dauerausstellung im Schloss Hainewalde in den Stadtraum ausgreift. Zu den beteiligten Institutionen gehören etwa die Musikschule oder das soziokulturelle Zentrum Hillersche Villa. Es hat seinen Sitz im einstigen Wohnhaus des Zittauer Industriellen Rudolf Hiller, dem Besitzer der »Phänomen-Werke«, die mit ihrer Produktion von Automobilen für die Kriegsindustrie interessant waren. Gleichzeitig hatte die Unternehmerfamilie teils jüdische Wurzeln. Was das in der NS-Zeit bedeutete, soll in Veranstaltungen in der Hillerschen Villa ergründet werden. Andere Aktionen finden mitten in der Stadt statt: Führungen etwa oder eine sogenannte »Marktergreifung«, bei der Anfang Juni mit einer »performativen Installation« die Verdrängung der zuvor zahlreich angereisten jüdischen Händler von Zittauer Märkten thematisiert werden soll. Viele Veranstaltungen im Rahmen von »Zittau ’33« finden bereits in den nächsten Monaten statt; ein Programmheft solle bald erscheinen, sagt Peter Knüvener. Die Sonderausstellung in seinem Haus, die eigentlich im März hatte eröffnen sollen, wird aufgrund einiger Widrigkeiten jetzt erst ab September zu sehen sein.

Dem Museumschef und seinen zahlreichen Mitstreitern geht es bei dem aufwändigen und in Sachsen einzigartigen Projekt nicht nur um eine Rückschau auf längst vergangene Ereignisse. Vielmehr sehen sie durchaus Parallelen zu heutigen Entwicklungen. Wie in den 1920er Jahren werde »den Menschen heute von manchen vorgegaukelt, dass es einfache Lösungen für komplexe Probleme gibt«, sagt Jan Zimmermann im Hainewalder Schloss. Schauspieldirektor Putz verweist auf Demonstrationen, die seit Monaten jeden Montag an seinem Theater vorbeiführen und die er als »sehr bedrohlich« erlebe. Derlei Proteste in Zittau und vielen anderen Orten der Oberlausitz richten sich vordergründig gegen Corona-Maßnahmen oder die Ukraine-Politik. Allerdings werden demonstrativ auch schwarz-weiß-rote Reichsflaggen geschwenkt, um das politische System der Bundesrepublik in Frage zu stellen. In der Region gehört es inzwischen zum Alltag, dass Politiker verächtlich gemacht oder, wie im Fall eines Besuchs von »Wutbürgern« Anfang 2021 vor dem Privathaus des sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer im Zittauer Gebirge, offen eingeschüchtert werden. In kommunalen Parlamenten stilisieren sich AfD-Abgeordnete zu Vertretern des »kleinen Mannes« gegen »die da oben« und wettern gegen angeblich korrupte »Altparteien«. Wenn er in historischen Unterlagen, Zeitungsartikeln oder Ratsprotokollen der frühen 1930er Jahre blättere, »kommt einem vieles bekannt vor«, sagt Knüvener.

Gleichsetzung, betont der Museumschef, sei nicht angebracht. Das Szenario einer erneuten Machtergreifung einer extrem rechten Partei will er nicht an die Wand malen. Allerdings wird in der Konzeption von »Zittau ’33« auch auf fatale politische Entwicklungen »gerade in dieser Region« verwiesen und davor gewarnt, »wie schnell die Werte der Demokratie und Freiheit verspielt werden können«. Und zwar auch in der Provinz, wo viele der Ereignisse, die es später in die Geschichtsbücher schaffen, schließlich ihren Ausgang nehmen.

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