- Kultur
- 80. Jahrestag
Schlacht um Stalingrad: Anfang vom Ende der Hitlerbarbarei
Vor 80 Jahren leitete die Rote Armee die Wende im Großen Vaterländischen Krieg ein
Er war 18 Jahre jung, der Schütze Walter Schröter. Mit der 1. Kompanie des I. Bataillons des Infanterieregiments 191 der 71. Infanteriedivision sollte er Stalingrad erobern, eine strategisch relevante Industrie- und Verkehrsmetropole. Im Tagebuch seiner Division findet sich unter dem Datum vom 26. September 1942: »Das I.R. 191 erkämpft mit ›Hurra‹ die letzten fdl. (feindlichen) Stellungen an der Wolga.« Am selben Tag wird auf dem ausgebrannten Gebäude der KPdSU (B) auf dem zentralen »Roten Platz« und auf dem Gebäude des Gorki-Theaters in Stalingrad die Reichskriegsflagge gehisst. Walter kommt nicht dazu, ein Tagebuch anzulegen. Oder Briefe an die Seinen daheim zu schreiben. Am vierten Tag seines Einsatzes, am 30. September 1942, reißt ihm ein Granatsplitter den Rücken auf. Er war ein einfacher Wehrmachtssoldat, seit dem 18. April 1942. In einen verbrecherischen Krieg geschickt, wurde er sprichwörtlich verheizt. War er, dessen sterbliche Überreste nun seit über acht Jahrzehnten in russischer Erde ruhen, Mittäter oder Opfer? Oder beides?
Am Morgen des 2. Februar 1943 befahl Generalmajor Martin Lattmann, Kommandeur der 389. Infanteriedivision der Wehrmacht, in Abstimmung mit Generalleutnant Arno von Lenski, Kommandeur der 24. Panzerdivision, die Übergabe des Nordkessels von Stalingrad an die Rote Armee. Beide handelten auf eigenen Entschluss gegen den Durchhalte-Parolen ausgebenden Generaloberst Karl Strecker, kommandierender General des schon nicht mehr existierenden XI. Armeekorps. Erstere sollten später auch einen Generalsrang bekleiden – in den bewaffneten Organen der DDR.
Die Schlacht an der Wolga, wie die Stalingrader Schlacht in der sowjetischen Historiografie auch genannt wurde, hatte am 17. Juli 1942 begonnen, als die Vorhuteinheiten der 6. deutschen Armee im großen Don-Bogen auf Vorausabteilungen der 62. und 24. Armee der Roten Armee trafen. Am 19. November 1942 leitete diese mit der »Operation Uranus« die zweite Periode der Schlacht ein. Vier Tage später gelang die Einkesselung der deutschen Truppen in Stalingrad (heute Wolgograd). Eine der kampfkräftigsten operativen Gruppierungen der Wehrmacht, die Vorhuten der 6. Armee mit rund 330 000 Mann, saß in der Falle. Nachdem ehrenhafte Angebote sowjetischerseits zur Kapitulation zurückgewiesen worden waren, ging die Rote Armee zur Liquidierung des Kessels über. In der »Operation Kolzo« wurde dieser in zunächst in zwei, dann drei Teile aufgespalten.
Der Befehlshaber der 6. Armee, der noch am 30. Januar 1943 mit der indirekten Aufforderung zum Selbstmord (»Ein deutscher Generalfeldmarschall ergibt sich nicht!«) zum höchsten militärischen Dienstgrad beförderte Friedrich Paulus, war schon am 31. Januar in seinem Hauptquartier, dem Stalingrader Kaufhaus, in sowjetische Kriegsgefangenschaft gegangen. Maßgeblich an der Ausarbeitung des Planes »Barbarossa« zum Überfall auf die UdSSR am 22. Juni 1941 beteiligt, bewies er nicht die Souveränität, seinen Truppen in auswegloser Situation zu befehlen, die Waffen zu strecken. Den brachte er erst in sowjetischer Kriegsgefangenschaft auf, als er dem antifaschistischen Bund Deutscher Offiziere (BDO) beitrat und dann als Zeuge der Anklage bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen sowie später mit seinen Auftritten in der DDR. Das brachte ihm den unversöhnlichen Hass seiner in der Bundesrepublik lebenden, zum Teil an neuen Kriegsvorbereitungen beteiligten ehemaligen »Kameraden« ein.
Nachdem die Waffen in und um Stalingrad endlich schwiegen, begaben sich über 91 000 Mann der Wehrmacht, darunter 2500 Offiziere, 21 deutsche und zwei rumänische Generäle sowie ein Generalfeldmarschall, auf den Weg in die Kriegsgefangenschaft: mehr tot als lebendig, halb erfroren, fast verhungert, verlaust, schwer verwundet an Körper und Seele. An die 40 000 erlebten schon nicht mehr die offizielle Registrierung in den Lagern. Nicht wegen mangelnder Sorge der Sieger sind sie dahingestorben, wie bis heute immer noch suggeriert wird, sondern vor allem wegen des Starrsinns ihrer Befehlshaber, die sie bis fünf Minuten nach Zwölf kämpfen ließen. Nur 6000 deutsche Soldaten aus dem Stalingrader Kessel kehrten nach Jahren in die Heimat zurück. Dazu sei angemerkt: In deutscher Kriegsgefangenschaft kamen 60 Prozent der Sowjetsoldaten um, in sowjetischer 14 Prozent der deutschen Soldaten.
Allein in den 200 Tagen der Schlacht an der Wolga verlor der faschistische Block 1,5 Millionen Soldaten – ein Viertel aller an der sowjetisch-deutschen Front eingesetzten Kräfte. Auch die sowjetischen Verluste waren unermesslich. Laut heutigen offiziellen Angaben der Russischen Föderation hatte die Rote Armee bei Stalingrad etwas mehr als 1,1 Millionen zu beklagen. Davor waren bereits 2,64 Millionen Rotarmisten gefallen und fast 1,7 Millionen verwundet worden und nicht mehr kriegsfähig.
Der sieggewohnte hochgerüstete Feind war zunächst rasch und tief in den europäischen Teil der UdSSR eingedrungen, hatte industrielle und landwirtschaftliche Kerngebiete erobert und glaubte sich alsbald in Moskau. Doch noch vor den Toren der sowjetischen Hauptstadt wurde er im Herbst/Winter 1941 gestoppt. Im Mai/Juni des folgenden Jahres ging der Roten Armee die strategische Initiative allerdings wieder verloren. Vor und an der Wolga würde es um alles gehen. Deshalb befahl Stalin in seiner Eigenschaft als Volkskommissar für Verteidigung am 28. Juli 1942: »Nicht einen Schritt zurück!« Von den mittlerweile rund elf Millionen Rotarmisten unter Waffen war die Hälfte kaum ausgebildet oder kampferprobt. Sie standen einer hochgerüsteten deutschen Militärmaschinerie und nebst Verbündeten rund 6,2 Millionen Mann gegenüber.
Der Sieg der Roten Armee in der Schlacht um Stalingrad bis hin zum letzten Kampf um Berlin war nicht gesetzmäßig. Er ist zurückzuführen auf die allergrößte Anspannung der Kräfte und Mittel des Sowjetstaates und seiner bewaffneten Kräfte an einem von der politischen und militärischen Führung der UdSSR völlig richtig erkannten Hauptabschnitt der Front und auf den tatsächlichen Massenheroismus des Sowjetvolkes und seiner Armee, die ums Überleben der Heimat kämpften. Zugleich aber auch auf die Unterschätzung des Gegners durch das Hitlerregime und seine Generalität sowie die krassen, von Abenteurertum getriebenen politischen und militärischen Fehlentscheidungen der Aggressoren, insbesondere nach der Schließung des Kessels von Stalingrad.
Die Schlacht vor Moskau hatte die Wende im Großen Vaterländischen Krieg eingeleitet, die Schlacht an der Wolga vollzog die Wende, und die Schlacht von Kursk im Juli 1943 vollendete sie, indem sie diese mit der dauerhaften Erringung der strategischen Offensive unumkehrbar machte. Diese drei unter riesigen militärischen, aber auch zivilen Opfern erkämpften strategischen Siege der UdSSR waren zugleich die entscheidenden für den Sieg der Antihitlerkoalition im Zweiten Weltkrieg in Europa. An dieser Stelle sei allerdings auch in Erinnerung gerufen, dass dies trotz des furchtbaren Aderlasses in den Terrorjahren 1937/38 glückte, bei dem viele Angehörige des Offizierskorps der Roten Armee ermordet worden sind, darunter so fähige Militärführer wie Marschall Michail W. Tuchatschewski.
Am 15. Juli 2022 hat der Präsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin, einen »Erlass zur feierlichen Begehung des 80. Jahrestages der Zerschlagung der deutsch-faschistischen Streitkräfte in der Stalingrader Schlacht durch die sowjetischen Streitkräfte« unterzeichnet. Der Krieg um die Ukraine ist natürlich nicht mit dem Großen Vaterländischen Krieg zu vergleichen. Und doch sollte nicht voreilig geurteilt werden über jene Menschen, denen Stalingrad noch immer in den Knochen steckt und die nicht verstehen können, warum Deutschland ihnen wieder als ein Kriegsgegner entgegentritt.
Dr. Lothar Schröter ist Militärhistoriker und Autor vieler Bücher zu Krieg, Nato, Sicherheitspolitik. Walter Schröter war sein Onkel.
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