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Handschlag am Stacheldraht

Auf der geteilten Insel Zypern bemühen sich sehr unterschiedliche Initiativen, den Hass zu überwinden

  • Dario Antonelli, Nikosia
  • Lesedauer: 8 Min.
Mitglieder des Chores Lena Melianidou treffen sich an einem Eingang zum Ledra Palace Hotel in Nikosia für eine Probe. Im Chor singen sowohl türkisch sprechende Menschen aus dem Norden als auch griechisch sprechende aus dem Süden.
Mitglieder des Chores Lena Melianidou treffen sich an einem Eingang zum Ledra Palace Hotel in Nikosia für eine Probe. Im Chor singen sowohl türkisch sprechende Menschen aus dem Norden als auch griechisch sprechende aus dem Süden.

Vom Dach der Famagusta Avenue Garage in Deryneia hat man einen weiten Blick aufs Meer. An Land dagegen erscheinen die Zustände beengter. 200 Meter von der Garage entfernt ist der Checkpoint vom südlichen zum nördlichen Teil der Insel. Es ist nicht so einfach, Kontakte über den Korridor hinweg zu knüpfen, erklärt Irene Antoniou: »Hier ist es nicht wie in Nikosia, niemand passiert den Checkpoint, um mit einem Freund einen Kaffee zu trinken. Wie überall in Zypern geht man in den Süden, um zu arbeiten, und in den Norden, um einzukaufen.«

Deryneia ist nur ein paar Kilometer von der Hafenstadt Famagusta entfernt. Das Projekt, für das sich Antoniou an der Südküste Zyperns engagiert, wurde vor einigen Jahren mit Unterstützung der Vereinten Nationen und der Gemeinde Deryneia ins Leben gerufen. »Die Garage bietet Platz für solidarische Aktivitäten zwischen den Gemeinschaften«, erzählt die 28-Jährige, die mit ihrer Initiative eng mit anderen Projekten zusammen arbeitet. »Wir versuchen, die Bindungen zwischen den jungen Generationen, die auf beiden Seiten der Grünen Linie leben, zu stärken«, erklärt Ali Furkan Çetiner von der Famagusta Youth Union. Leicht sei das aber nicht, meint Antoniou. »Die politischen Behörden in Zypern tun alles, um unsere interkommunalen Projekte kleinzuhalten. Sie sind zwar grundsätzlich erlaubt, aber oft logistisch nicht möglich.«

Seit nahezu fünf Jahrzehnten ist Zypern de facto zweigeteilt. Das türkische Militär hatte im Juli 1974 den Nordteil besetzt, nachdem griechische Putschisten den Anschluss Zyperns an Griechenland durchsetzen wollten. Im Süden liegt die Republik Zypern, die Teil der Europäischen Union ist, aber nicht zum Schengenraum gehört. Die Türkische Republik Nordzypern wird dagegen nur von der Türkei anerkannt und von der Republik Zypern als besetztes Gebiet betrachtet. Die Teilung fällt mit der 1963 von den Briten definierten Grünen Linie zusammen. Entlang ihrer 184 Kilometer langen Strecke ist eine Pufferzone seitdem unter der Kontrolle der UNFICYP-Mission der Vereinten Nationen.

In der Hauptstadt Nikosia dominiert eine mit Schusslöchern übersäte Fassade des ehemaligen Luxushotels Ledra Palace die Straße der Pufferzone. An beiden Enden ist sie von Checkpoints begrenzt. Blau und weiß auf der einen Seite, rot und weiß auf der anderen. Die Uno-Friedenstruppe hat in dem Hotel ihr Hauptquartier eingerichtet. Ihm gegenüber liegt das Café von Home for Cooperation. Salih Toksöz wartet auf seinen Schichtbeginn als Barkeeper. »Es ist absurd, dass wir Zyprer untereinander Englisch sprechen«, sagt der 25-Jährige mit einem gequälten Lächeln und stellt seine Tasse auf den Tisch. »Normalerweise versucht niemand, die Sprache des anderen zu lernen. Aber wir glauben, die Muttersprache des anderen zu verstehen, ist eine Möglichkeit, Gemeinschaften zusammenzubringen.« Das ist die Idee des 2019 gegründeten Vereins für Zweisprachigkeit in Zypern, für den sich Toksöz engagiert. Das Verhältnis zur anderen Sprache ändere sich mit den Generationen, hofft er. »Mein Großvater kennt den griechischen Slang, den Dialekt, aber er kann ihn weder schreiben noch lesen.« Da gebe es viele Berührungsängste. Kinder dagegen lebten in einer anderen Welt. »Wenn sie zusammenkommen, freunden sie sich oft rasch an, auch wenn sie verschiedene Muttersprachen haben«, ist seine Beobachtung. Und darauf setzt er.

Im Westen der Insel findet in einem Saal der Pantelis Taverne in Pelathousa ein Musikfestival statt, bei dem auch der Chor Lena Melianidou auftritt. Die Sängerinnen und Sänger sind schon älter, oft zwischen 60 und 75 Jahre alt. Sie gehören jener Generation an, die den Krieg direkt erlebt hat. »Unsere Initiative ist die älteste noch aktive bikommunale Initiative«, erklärt Costis Kiranides, 71, eines der Gründungsmitglieder des Projekts. Seit 25 Jahren bringt es Menschen aus den voneinander getrennten Gebieten zusammen. Gemeinsam singen sie Lieder auf Griechisch und Türkisch. Dem Frieden will der Chor damit eine Stimme und eine konkrete Perspektive geben.

Bevor das Konzert beginnt, geht die Solistin Christalla Tsiakli noch einmal nach draußen auf die Terrasse. »Ich bin dem Chor 2006 beigetreten«, erzählt sie. »Da hatte ich schon ein paar Konzerte gesehen und wollte die Türken kennenlernen. Außerdem liebe ich es zu singen.« Sie war 15 Jahre alt, als sie am 14. August 1974 aus dem Dorf Palekythron im Norden der Insel deportiert wurde. Der Bustransport war für sie schrecklich: »Als wir durch ein Dorf fuhren, umringte uns ein Mob und versuchte, uns mit Steinen und Stöcken zu treffen. Zum Glück gelang es dem Fahrer weiterzufahren.« Im Chor traf Christalla auch einen von jenen Leuten, die damals versucht hatten, den Bus anzugreifen: »Ich fragte ihn, warum er das tat, und er antwortete: Sie sagten uns, dass die Griechen alle schlecht seien.«

Vorurteile seien noch immer weit verbreitet, meint Costas Christodoulides: »Ich habe meinem Neffen erzählt, dass ich in dem Chor singen möchte. Und was meinst du, was er mir gesagt hat? ›Geh nicht, sie töten dich vielleicht.‹« Er winkt mit den Händen, während er spricht. »Sie lehren in der Schule immer noch Hass. Sie bringen den Jungen bei, die Türken zu hassen. Der Nationalismus ist weit verbreitet. Aber wenn wir aufhören, uns mit dem Chor zu treffen und aktiv zu sein, werden sie die Gelegenheit nutzen, die Grenze für immer zu schließen. Und auch das Leben von Migranten und Asylsuchenden wird sich dann verschlimmern.«

In der Taverne tanzt ein imposanter Mann mit langen schwarzen Haaren mit einer Frau, die viel jünger ist als er. »Ich habe zwei Väter«, erzählt die Frau, Birgül Kılıç, »meinen biologischen, und dann Andreas.« Sie blickt zu ihrem Tanzpartner auf. »Er ist mein Süt Babam«, was auf Türkisch »Milchvater« heißt.

Andreas Efstathiou stammt aus einer griechischsprachigen Familie und wurde 1974 als Soldat in den Krieg eingezogen. »Ein Mann kam auf uns zu«, erinnert er sich an eine Szene, die sein Leben prägen sollte. »Die anderen wollten ihn erschießen. Aber ich habe sie aufgehalten. Er war verzweifelt, bat uns um Milch für sein Baby. Und ich rannte los, um sie zu besorgen. Es war sehr gefährlich, aber im Leben muss man etwas Gutes tun.« Drei Monate lang hat er dem Soldaten im Norden die laktosefreie Milch gebracht, die sein Kind zum Überleben brauchte und die in dem Gebiet unter türkischer Kontrolle nicht zu bekommen war. Das Baby von einst war Birgül Kılıç, seine Tanzpartnerin.

Eine Schlüsselrolle für die Friedensinitiativen auf der Insel nimmt die Uno ein. »Fast alle Projekte, die das zivile Engagement stärken, werden heute von den Vereinten Nationen unterstützt«, erklärt Therapoulla Kalatha, Beamtin für zivile Angelegenheiten der UN-Mission. Aber das Bedürfnis, sich für ein friedliches Miteinander einzusetzen, gebe es nicht erst mit der Unterstützung der Uno, sondern bereits seit dem Kriegsausbruch – und zwar in beiden Teilen der Insel, betont sie.

Allerdings verhärten sich die Fronten seit einiger Zeit entlang der innerzyprischen Grenze, seit die Behörden im Süden der Insel den Bau von Grenzvorrichtungen angewiesen haben. »Wir sind uns des Problems bewusst«, meint Giulia Bosco, Teamleiterin der Uno-Polizeieinheit am Bahnhof in Pyla, einem Dorf im Süden des Landes. Aber noch gebe es keine Hinweise auf eine verstärkte Grenzschließung. Bislang hat die Republik Zypern nie Barrieren entlang der Grünen Linie errichtet und betrachtete sie nicht als Grenze zwischen Staaten, sondern nur als Grenze der Gebiete unter ihrer tatsächlichen Kontrolle. Seit 2021 hat die Regierung allerdings damit begonnen, Stacheldrahtwälle entlang der Linie zu errichten, um illegale Einwanderer zu stoppen. Sie hat auch Vereinbarungen mit Israel getroffen, um die Überwachung mit neuen technologischen Mitteln umzusetzen. »Die Grüne Linie als Außengrenze zu betrachten, ist völlig neu für Zypern«, sagt Corina Drousiotou, Koordinatorin des zyprischen Flüchtlingsrates. »Viele sind besorgt, dass die Spaltung sich noch weiter vertieft. Die Migranten scheinen nur ein Vorwand zu sein«, befürchtet die 46-Jährige.

Zu denen, die am stärksten von einer solchen Politik betroffen sind, gehören die jüngeren Generationen aus dem Norden. »Das größte Problem, mit dem wir in Famagusta konfrontiert sind, ist die Schwierigkeit, eine feste Gruppe von Menschen zu bleiben«, erklärt Ali Furkan Çetiner von der Famagusta Youth Union frustriert. »Viele gehen weg – ins Ausland oder auch nur nach Nikosia, um zu arbeiten. So können wir keine sozialen Netzwerke schaffen.« Deshalb haben er und seine Mitstreiter von der Famagusta Youth Union den Fokus auf weitere Minderheiten gelenkt, die sie in ihre Gemeinschaften einschließen wollen. »Wir denken, es ist zeitgemäß, sie alle einzubeziehen und eine interkommunale Perspektive einzunehmen, nicht mehr nur eine bikommunale«, sagt Mustafa Öngün, UN-Beamter für zivile Angelegenheiten. Schließlich gibt es Minderheiten in Zypern, die seit Generationen präsent sind, wie Armenier oder libanesische Maroniten. Aber auch neue Communitys von Geflüchteten kommen hinzu. »Es gibt die Studie einer Lehrergewerkschaft, die besagt, dass im Norden in Grundschulen nur 50 Prozent der Kinder Türkisch sprechen«, erzählt Öngün.

In den Containern im Garten des Ledra-Palastes in Nikosia geht eine von der Jugendorganisation Hade organisierte Sprachbegegnung mit Workshops zu Ende. »Das Alphabet zu lernen ist schon ein großer Schritt«, ruft jemand vom griechischen Anfängertisch, und viele lachen. Das Treffen ist Teil der Veranstaltungsreihe »Let’s Mingle«. »Diese Treffen werden einen Austausch ermöglichen, der normalerweise nicht im Alltag stattfindet, zwischen Menschen, die sich die Pufferzone wieder aneignen und einem Zypern ohne Grenzen Leben einhauchen wollen«, heißt es in der Einladung. Die Diskussion darüber ist eröffnet.

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