Nach Erdbeben: Schon weit über 11 000 Tote

Trotz des verheerenden Erdbebens bombardiert die türkische Armee Gebiete in Nordsyrien

  • Lesedauer: 5 Min.

İskenderun. Es gibt Geschichten von Rettungen nach endlosen Stunden unter den Erdbebentrümmern in der Türkei und Syrien. Eine ist die von Serap Ela. Die mit einem Schlafanzug bekleidete Fünfjährige wird von Helfern in Hatay aus den Trümmern gezogen, wie Videos zeigen. Auch ein vier Monate altes Mädchen finden Retter zwischen eingestürzten Hauswänden und wickeln es in eine Decke. Für viele andere kommt Rettung zu spät. Etliche Menschen warten seit Tagen auf Hilfe. Viele wissen, wo ihre Angehörigen, Freunde oder Nachbarn in den Trümmern vergraben sind, können teilweise sogar mit ihnen telefonieren oder ihre Stimmen hören.

Auf Twitter wird millionenfach der Hashtag #SESVAR geteilt (gemeint ist: »Wir hören Stimmen«). Menschen teilen Standorte, flehen um Hilfe. Doch ohne das nötige technische Gerät geht es nicht. In der Küstenstadt İskenderun rufen Helfer immer wieder in einen Trümmerhaufen, einst ein Mehrfamilienhaus: »Hört jemand meine Stimme?« Wenige Meter weiter haben freiwillige Helfer eine Kette gebildet. Hier haben sie auch mehr als 60 Stunden nach dem ersten starken Beben noch Überlebende gehört. »Es hat nicht gewankt, sondern Pompompom gemacht«, sagt Müzeyyen Türker, imitiert einen Presslufthammer und meint damit das Erdbeben.

Soldaten teilten in einem Zeltcamp im Zentrum der Stadt Decken aus. Mindestens 20 Menschen recken die Hände, die Menge wird ungeduldig: »Ich habe Kinder«, ruft eine Frau. Auf den Straßen, die zu den zerstörten Gebieten führen, sieht man Helfer auf den Rastplätzen, häufig mit voll beladenen Autos. Einer sagt, er habe sich aus Ankara auf den Weg gemacht. Er packt Windeln in seinen Transporter, der bereits bis unters Dach beladen ist. Auf den Straßen sind etliche Lkw unterwegs, oft mit Schildern, auf denen steht: »In Solidarität mit den Erdbebengebieten«.

Betroffene klagen unterdessen über fehlende oder nur schleppende Hilfe bei der Bergung Verschütteter. Der türkische Oppositionsführer warf Präsident Recep Tayyip Erdoğan persönlich Versagen vor. »Wenn jemand hauptverantwortlich für diesen Verlauf ist, dann ist es Erdoğan«, sagte Kemal Kılıçdaroğlu, Chef der größten Oppositionspartei CHP. Erdoğan habe es versäumt, das Land in seiner 20-jährigen Regierungszeit auf solch ein Beben vorzubereiten.

Der Präsident räumte bei einem Besuch in den Erdbebengebieten ein, dass es am ersten Tag Probleme bei der Rettung gegeben habe. Aber ab dem zweiten Tag habe man die Situation bewältigen können, sagte er in Kahramanmaraş. Vielerorts wird unter anderem Pfusch am Bau als ein Grund für die vielen eingestürzten Häuser diskutiert.

Jesco Weickert von der Welthungerhilfe hat das Beben im türkischen Gaziantep erlebt. Ihm und seinem Team stecke es noch in den Knochen, an Alltag sei derzeit kaum zu denken. Viele Kollegen seien schockiert, schliefen in Autos und trauten sich nicht mehr in ihre Häuser. Der Strom falle immer wieder aus, Gas gebe es nicht. »Der Schaden an der Infrastruktur ist auch hier massiv. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, bis man das alles wieder instand setzt«, so Weickert.

Die Regierung bezeichnete die Beben als eine der schlimmsten Katastrophen der vergangenen Jahrzehnte und kündigte an, alle verfügbaren Mittel zu mobilisieren. Mindestens 9057 Menschen wurden allein in der Türkei getötet, etwa 53 000 verletzt. Aus Syrien wurden 2662 Tote gemeldet.

Trotz dieser Katastrophe bombardierte die Türkei in der Nacht von Montag auf Dienstag Kurdengebiete in Nordsyrien, wie die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) am Dienstag kritisierte. »Gegen Mitternacht griff die Türkei das vom Beben betroffene Umland von Tal Rifaat an«, sagte GfbV-Nahostexperte Kamal Sido. Dort, nördlich von Aleppo, hätten kurdische Vertriebene aus der Region Afrin Zuflucht gefunden. »Es ist skandalös, dass ein Nato-Staat eine humanitäre Katastrophe mutwillig verschlimmert. Von anderen Nato-Ländern kommt dazu kein Wort der Kritik.« Die Selbstverwaltung von Nordostsyrien bestätigte die Bombardierung. »Wir verurteilen die Angriffe der Türkei aufs Schärfste. Sie kommen in einer Situation, wo viele Menschen bereits alles durch das Erdbeben verloren haben«, erklärte Khaled Davrisch, Repräsentant der Selbstverwaltung in Deutschland.

Kritik an der Türkei äußerte auch Janine Wissler, Vorsitzende der Partei Die Linke: »Das Agieren Erdoğans ist unmenschlich und verbrecherisch.« Sie wies darauf hin, dass sich in dem bombardierten Gebiet ein Flüchtlingslager befinde, und forderte Syrien und die Türkei auf, die Grenze zu öffnen, »um grenzüberschreitende Hilfe zu ermöglichen. Bis jetzt, am dritten Tag nach dem ersten Beben, sind nicht alle Orte durch Rettungskräfte erreicht worden. Die Zustände sind dramatisch, und die Überlebenschancen der Verschütteten schwinden stündlich.« dpa/nd

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