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  • Welthandels- und Entwicklungskonferenz

»Mit diesen Märkten können wir nicht leben«

Volkswirt Heiner Flassbeck darüber, was in der Welt schiefläuft und wie es zur Gründung der UNCTAD kam

  • Interview: Kathrin Gerlof
  • Lesedauer: 10 Min.

Herr Flassbeck, wir haben uns vorgenommen, in dieser Ausgabe ein wenig Licht in die Wirrnis zu bringen. Es gibt viele internationale Organisationen, regelmäßige Formate, mehr oder weniger verbindliche Institutionen der Weltwirtschaft, Verträge, stetig wiederkehrende Konferenzen, die uns fast alle als Buchstabenkombination unterkommen und von denen wir oft nicht wissen, wie und warum genau sie entstanden sind und wozu sie gebraucht werden. Sie waren von 2003 bis 2012 Direktor der Abteilung für Globalisierung und Entwicklungsstrategien der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung. Die Buchstabenkombination dafür ist UNCTAD. Diese Organisation trägt die Begründung also schon im Namen. Sie ist entstanden aufgrund oder im Zuge zunehmender Globalisierung. Und lenkte den Blick auf die Auswirkungen dieser Prozesse auf die Entwicklungsländer. Gehen wir für unsere Leser*innen mal an den Ausgangspunkt. Warum diese Schwerpunktsetzung?

Die UNCTAD wurde Anfang der 1960er Jahre auf den berechtigten Wunsch der Entwicklungsländer hin gegründet, eine alternative Meinung (im Englischen sagt man »second opinion«) zu hören. Schon damals dominierte natürlich das, was man Mainstream nennt. Und der Mainstream wurde den Entwicklungsländern immer durch den Internationalen Währungsfonds (IWF) vermittelt. So ist das heute noch. Es gab in den Entwicklungsländern einige Ökonomen, die die Idee hatten, zu sagen: Es muss ja noch was anderes geben als das. Wir wollen eine Organisation, die sich explizit mit der Frage auseinandersetzt, ob die Wirtschaftsordnung so sein muss, wie sie ist. Kann man sie auch verändern, anders gestalten, besser machen? Welche Alternativen zum westlichen Wirtschaftssystem, also zum reinen Kapitalismus, gibt es generell? Das war noch die Zeit der Blöcke und der Blockkonfrontation. Aber alle im Süden waren an Antworten auf diese Fragen interessiert. Dazu natürlich der Ostblock.

OXI - Wirtschaft anders denken

ILO, IWF, Doha-Runde, GATT, NAFTA, UNCTAD ... irgendwann haben wir uns in der kleinen Redaktion gestanden, dass wir immer wieder nachgucken, was diese Abkürzungen bedeuten. Und dann immer noch nicht wissen, was sich hinter den Namen, für die sie stehen, eigentlich verbirgt. Was wir schleunigst ändern wollen, so dass wir die Februar-Ausgabe der Frage widmen, welche Rollen die Institutionen der Weltwirtschaft im Verlauf der Globalisierung eingenommen haben und wie sie sich zukünftig positionieren könnten.

Die Ausgabe kommt am 10. Februar 2023 zu den Abonnent*innen, am 11. Februar liegt sie für alle, die ein »nd.DieWoche«-Abo haben, exlusiv bei.

Wer bestimmt eigentlich, wann ein Land als Entwicklungsland gilt und angesehen wird?

Dafür gibt es Kriterien. Vor allem bemisst sich das nach dem Vergleich mit dem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen der reichen Länder. Man kann sich auch selbst in eine solche Position bringen, und manchmal verschwimmen die Grenzen. Bei China zum Beispiel stellt sich die Frage, ob das noch ein Entwicklungsland ist. China selbst beharrt darauf, eins zu sein. Und ich finde, wenn sich ein Land selbst als Entwicklungsland bezeichnet, dann sollte das akzeptiert werden.

Die UNCTAD veröffentlicht jährlich einen Handels- und Entwicklungsbericht (TDR), der sozusagen als Flaggschiff der Organisation gilt. Wem dient er wozu?

Dieser Bericht war von Beginn an der zentrale Versuch der Organisation, ihre theoretischen Erkenntnisse zu verbreiten. Das war der Kern dessen, was die UNCTAD ausgemacht hat: die Suche nach Antworten auf die Frage, was in der Welt schiefläuft, was man ändern kann und welche alternativen Ansätze es gibt. Das ist bis heute so geblieben.

An wen wendet sich der Bericht?

In erster Linie an die Entwicklungsländer. Es gibt ja in der UNCTAD und in der UNO generell Gruppeneinteilungen. Die Entwicklungsländer laufen da immer noch unter dem Namen G77, Gruppe der 77. So viele waren es mal, inzwischen sind es viel mehr. Das ist also die Hauptzielgruppe. Ich habe in meiner Zeit immer gesagt, dass ich der Advokat der Entwicklungsländer bin, als Direktor dieser Abteilung. Und so habe ich mich auch gegenüber den Industrieländern verhalten.

Bereits in Ihrer Zeit haben Sie in diesem jährlichen Bericht, den Sie zu verantworten hatten, darauf aufmerksam gemacht, dass es erheblicher öffentlicher Interventionen bedarf, um größere Schäden für Real- und Finanzwirtschaft der Entwicklungsländer zu vermeiden. Mehr Regulierung, mehr Transparenz seien nötig, um globale Ungleichgewichte zu verringern oder gar zu vermeiden. Wie sollte mehr Transparenz und Regulierung Ihrer Meinung nach aussehen?

Im Fokus der UNCTAD standen immer die Kapitalmärkte. Weil sie einfach nicht funktionieren. Daher rührt auch der große Bruch zwischen der UNCTAD auf der einen, dem IWF und der Weltbank auf der anderen Seite, die ganz stark das Dogma der effizienten Kapitalmärkte vertraten. Manche sagen: weil sie so nah an der Wall Street sind. Das kann so sein, ich unterstelle es nicht, auch wenn einiges dafürspricht. Es lässt sich an unendlich vielen Beispielen zeigen – das größte war die globale Finanzkrise 2008/09 –, dass die Kapitalmärkte extrem ineffizient sind. Dazu kommt, dass die Entwicklungsländer sehr oft sehr abhängig sind von diesen Kapitalmärkten. Deshalb geraten sie immer wieder in sogenannte Schuldenkrisen oder Finanzkrisen oder Währungskrisen.

Die vergangenen 30 Jahre waren gekennzeichnet von Finanzkrisen. In den 1980er Jahren gab es eine Krise in ganz Lateinamerika. Mexiko, Asien, Russland, Brasilien, Argentinien, das waren alles Währungskrisen. Und dann Ende 2008 die Industrieländerkrise, die auch eine Spekulationskrise war. Das zeigt, dass der Ansatz der UNCTAD, von Beginn an zu sagen, mit diesen Märkten können wir nicht leben, nicht überleben, nicht weiterkommen, völlig richtig war.

Man muss das immer vor dem Hintergrund der Lehre der herrschenden Ökonomik sehen. Die behauptet, was ich für fundamental falsch halte, dass die Entwicklungsländer Kapital aus dem Westen, aus den Ländern des Globalen Nordens brauchen, weil sie sich sonst gar nicht entwickeln können.

Und was sagen Sie?

Kapital entwickelt sich aus dem Prozess heraus, und jedes Land kann Kapital schaffen. China ist das beste Beispiel. Es hat zwar ausländisches Kapital angesogen, aber selbst immer Kapital exportiert. Per Saldo hat China nie etwas bekommen, sondern immer Kapital exportiert. Das widerlegt die These, dass Entwicklungsländer Leistungsbilanzdefizite haben müssen und auf diese Art und Weise Kapital aus den Industrieländern bekommen.

Das sind ganz große Konflikte, bei denen immer der IWF und die Weltbank auf einer Seite stehen, wobei die Weltbank zu bestimmten Zeiten auch mal sehr progressive Volkswirte an der Spitze hatte. Heute aber hat sie sich hinter dem IWF eingereiht und vertritt einfach blanken Neoliberalismus. Und von den Stakeholdern im IWF – das sind Europa und die USA – wird das ganz klar gefördert und vorgeschrieben.

Was haben die Entwicklungsländer, die ja gefordert haben, dass es eine solche Organisation/Abteilung gibt, reingegeben, als eigene Vorstellung davon, wie eine neue Weltwirtschaftsordnung aussehen müsste?

Das ist ein Ziel, das Anfang der 1970er Jahre, also vor meiner Zeit, ausgerufen wurde. Die Vision, man könne eine völlig neue Weltwirtschaftsordnung aufbauen, ist nicht in Erfüllung gegangen. Das war auch nicht mal in Ansätzen möglich. Der einzige größere Versuch, den es gab, war, Spekulationen aus den Rohstoffmärkten rauszunehmen, durch einen zentralisierten Lageraufbau, verwaltet durch die UNO. Um so dafür zu sorgen, dass die Preise für Rohstoffe nicht so stark schwanken. Aber auch das ist am Widerstand der Industrieländer gescheitert. Danach gab es keinen globalen Wurf mehr, sondern man beschränkte sich auf bestimmte Teilbereiche: Kapitalmärkte, Arbeitsmärkte. Da hat man von der UNCTAD erwartet, eine kritische Stimme zu sein. Um ein aktuelles Beispiel für Ansätze zu nennen: Lula ist wieder Präsident in Brasilien geworden. Als er zum ersten Mal Präsident wurde, Anfang der 2000er Jahre, ich war gerade bei der UNCTAD eingestiegen, haben wir in den folgenden Jahren sehr stark mit der brasilianischen Regierung zusammengearbeitet. Wir haben versucht, aufzuklären über die Risiken und Gefahren, die ihnen weltwirtschaftlich drohten. Währungsspekulation ist ein Beispiel. Es ist nur teilweise gelungen, unsere Unterstützung in Politik umzusetzen. Weil es massive politische Gegenkräfte, vor allem die USA und Europa, gab. Die haben einfach nichts außer ihrer Ideologie akzeptiert. Deswegen sind wir so »beliebt« im Rest der Welt, weil wir so wunderbar bereit sind, mit den Entwicklungsländern zu kommunizieren. Nämlich überhaupt nicht. Es wurde sogar schlimmer, weil wir alternative Konzepte angeboten haben und auch die Unterstützung von Ländern wie China und Indien oder Brasilien hatten. Da wurde die UNCTAD komplett infrage gestellt, das Mandat sollte radikal gekürzt werden, so dass die Organisation keine alternative Stimme mehr abgeben kann, sondern nur der IWF als Meinungsmonopolist existiert. Die Überzeugung unserer Regierungen ist: Es darf nur eine einzige Stimme geben, die den Entwicklungsländern sagt, wo es langgeht, und das muss der IWF sein.

Die gleichen Leute, die das für richtig halten, sind dann die, die nach Afrika reisen und den Menschen dort erzählen, dass sie ihnen jetzt ungeheuer helfen werden. Aber die Afrikaner fallen denen natürlich nicht um den Hals. Die lachen sich tot und sagen: Guck, das haben die uns schon immer erzählt, dann schicken sie den IWF, und der verordnet uns Sachen, die uns nur kaputtmachen.

Wir haben keinen ernsthaften Blick mehr auf die Welt.

Mit welchem Plazet, mit welchen Möglichkeiten müsste denn eine solche Organisation ausgestattet sein, um etwas zum Besseren zu wenden?

Meine Vorstellung war, dass diese Länder selbst eine Organisation gründen müssen. Als Wettbewerber zum IWF. Wir wollen doch immer Wettbewerb. Aber sie waren am Ende nicht bereit – BRICS war mal ein Versuch –, sich auf ein eigenes intellektuelles Programm zu einigen. Eine alternative Ökonomik hätten sie gebraucht. Ich war sehr oft in lateinamerikanischen Ländern und habe versucht, dafür zu werben, dass sich die Länder finanziell befreien von den USA und eigene Wege suchen. Das war vollkommen unmöglich.

Der klassische Fall ist Ecuador. Der damalige Präsident verzweifelte an seinem Währungssystem. Ecuador ist dollarisiert, das verrückteste Währungssystem, das die Welt kennt. Die müssen die US-Dollars physisch nach Ecuador tragen. Um das zu ändern, hätte man eine südamerikanische Initiative gebraucht. Wir haben ein Gutachten erstellt und beschrieben, was die Voraussetzungen für eine lateinamerikanische Währungskooperation sind. Alles ist im Sande verlaufen. Jetzt wird wieder über eine Banco del Sur (Bank des Südens) geredet. Aber am Ende ist es so: Die Entwicklungsländer sind sich zu selten einig. Es gelingt nicht, als Gegenkraft mit einer Stimme zu reden.

Sie befassen sich viel mit dem Thema Staatsschulden. Wir sind Tausende Meilen entfernt davon, dass sich hier in Bezug auf Entwicklungsländer etwas bewegt.

Es ist immer das Gleiche, das hängt stark an der Ideologie und der Behauptung, dass die Entwicklungsländer Geld aus dem Globalen Norden brauchen. Das ist fundamental falsch. Und so geraten diese Länder immer wieder in Überschuldung. Dann auch noch Verschuldung in Fremdwährung, was das Allerdümmste ist. Das liegt an unserer Handelsdoktrin, an der Art und Weise, wie wir freien Handel und wie wir Kapital verstehen. Beides ist nicht zu gebrauchen. Das ist nicht nur eine politische, sondern auch eine ökonomisch-theoretische Frage. Da kommen wir allein politisch keinen Schritt voran. Man muss ja auch sehen, dass die gut ausgebildeten Leute in den Entwicklungsländern alle im Westen ausgebildet wurden. Wenn einer mal Ökonomie in Harvard studiert hat, dann ist das Entwicklungsland verloren, weil da in der Regel grandioser Blödsinn rauskommt.

Umschuldung ist immer richtig. Aber eigentlich bräuchten die Entwicklungsländer gar keine Schulden zu machen. Dabei muss man sie beraten. China hatte ich genannt. Das Land ist von den Amerikanern immer dafür angegriffen worden, dass es keine Auslandsschulden macht.

Ich habe Konferenzen in Entwicklungsländern erlebt, bei denen sich Ökonomen aus diesen Ländern gegenseitig bestätigt haben, dass ihre Länder zu arm seien, um Kapital zu bilden, und man deshalb auf die reichen Länder zurückgreifen müsse. Das ist vollkommener Blödsinn und basiert auf einer lächerlichen Theorie, ist aber eben herrschende Lehre.

Und Schuldenschnitte?

Die sind immer verbunden mit Vorgaben. Da kommt der IWF und verhandelt, wie die Länder in den nächsten 30 Jahren Neoliberalismus machen müssen. Auch einen Schuldenerlass kriegt man nicht ohne den IWF. Das ist nicht losgelöst zu behandeln. Wenn in dieser Welt ein Entwicklungsland Geld braucht, muss es zum IWF gehen. Der hat ein absolutes Monopol. Wir haben da eine völlig verrückte Konstruktion. Das Einzige, was wirklich helfen würde, wäre ein Nicht-IWF, finanziert von den Entwicklungsländern selbst.

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