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Wiedergeburt sieht anders aus
Der Mythos der Griechenland-Rettung durch die Institutionen
Er erzählt davon, als wäre es das griechische Polit- und Wirtschaftswunder gewesen. 1981, als Griechenland der EU beigetreten ist, war er in Athen und verkaufte Computer. Eigentlich hatte er in den USA Astrophysik studiert und dann drei Jahre bei der NASA gearbeitet, aber daraus ließ sich nach seiner Rückkehr und dem Militärdienst in Griechenland nicht viel machen. Er gehörte zur ersten Welle Griechen, die es schafften, bei den europäischen Institutionen anzuheuern. Nach Bestehen der entsprechenden Prüfungen – damals wurden auf einen Schlag Tausende eingestellt. Brüssel und der Job bei der Europäischen Kommission veränderten sein Leben und das seiner ganzen Familie. Dafür hatte sein Vater, Migrant aus der Türkei, der sein Land beim Bevölkerungstausch in den 1920er Jahren nach dem Angriffskrieg Griechenlands verlassen musste, viel Geld ausgegeben. Der Englischunterricht eröffnete damals für viele das Tor zur Welt. 40 Jahre später sitzt mein Vater in Thessaloniki und zieht Bilanz: »Der europäische Traum war gut für mich, aber insgesamt ist die Vision geplatzt.« Was ist vom EU-Beitritt geblieben?
ILO, IWF, Doha-Runde, GATT, NAFTA, UNCTAD ... irgendwann haben wir uns in der kleinen Redaktion gestanden, dass wir immer wieder nachgucken, was diese Abkürzungen bedeuten. Und dann immer noch nicht wissen, was sich hinter den Namen, für die sie stehen, eigentlich verbirgt. Was wir schleunigst ändern wollen, so dass wir die Februar-Ausgabe der Frage widmen, welche Rollen die Institutionen der Weltwirtschaft im Verlauf der Globalisierung eingenommen haben und wie sie sich zukünftig positionieren könnten.
Die Ausgabe kommt am 10. Februar 2023 zu den Abonnent*innen, am 11. Februar liegt sie für alle, die ein »nd.DieWoche«-Abo haben, exlusiv bei.
Wir befinden uns im Jahr 2023, 13 Jahre nachdem der damalige sozialdemokratische Premierminister Giorgos Papandreou zugab, dass Griechenland es nicht allein packen würde, seinen Schuldenberg abzubauen. Er sandte prompt einen Hilferuf an die europäischen und internationalen Wirtschaftsinstitutionen. Es stellte sich heraus, dass die Zahlen zum Haushaltsdefizit seit Jahren zu niedrig angesetzt worden waren und doppelt so hoch sein könnten wie ursprünglich angegeben. Die Zinssätze schnellten in die Höhe, als die Ratingagenturen die griechischen Staatsschulden herabstuften. Insgesamt hat das Land drei Rettungsprogramme in Anspruch genommen und dabei rund 300 Milliarden Euro geliehen. Diese Kredite waren an Bedingungen der sogenannten Troika aus IWF, EZB und Europäischer Kommission geknüpft: Griechenland musste seine öffentlichen Ausgaben kürzen und seine »korrupte, ineffiziente Bürokratie reformieren«. Im Klartext bedeutete das vor allem einen massiven Ausverkauf, unter anderem von Flughäfen über Häfen bis hin zur staatlichen Telefongesellschaft OTE.
Der europäische Traum Griechenlands endete abrupt, ohne große Vorwarnung. Griechenland erlebte einen wirtschaftlichen Zusammenbruch, der sogar länger andauerte als die Große Depression in Amerika: Die Wirtschaft schrumpfte um mehr als 25 Prozent, das verfügbare Einkommen der Bürger sank um ein Drittel, und die Arbeitslosigkeit stieg auf fast 30 Prozent. Betroffen von der regelrechten sozialen Zertrümmerung waren vor allem prekäre Menschen, eine sich als gut situiert betrachtende Mittelschicht, die Rentner*innen und besonders die Jugend.
Im Viertel meiner Familie, Kalamaria am östlichen Rand von Thessaloniki, verbrachte ich die Ferien Sommer um Sommer zusammen mit Kindern aus der Nachbarschaft, mit Versteck- und Fußballspielen, später, im Studium, mit Retsina-Trinken. Von den etwa 20 jungen Menschen sind nur etwa vier oder fünf übriggeblieben – die meisten haben sich auf den Weg Richtung Ausland gemacht: Niederlande, England, Deutschland oder Luxemburg. Die Maßnahmen der Weltwirtschaft haben die Jugendarbeitslosigkeit explodieren lassen und sorgten für einen massiven »Braindrain«. Mein Freund Giorgos arbeitet mittlerweile in Amsterdam, als Programmierer für Smartphone-Apps, und hat nicht vor, so schnell wieder zurückzukommen. Wie denn auch, wo er in seiner Branche maximal 900 Euro im Monat verdienen kann, ohne Kündigungsschutz, oder drei Euro die Stunde in einem Café, wie viele andere Studierte?
Es herrscht eine enorme Perspektivlosigkeit, trotz des von der Politik bejubelten angeblichen Aufschwungs der griechischen Wirtschaft. Im letzten Frühling kündigte der rechtskonservative Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis an, dass Griechenland soeben 1,85 Milliarden Euro und damit die letzte Tranche seiner Schulden beim Internationalen Währungsfonds zurückgezahlt habe – zwei Jahre früher als geplant – und somit ein »dunkles Kapitel abschließt«. Schon im Jahr 2018 machte Griechenland den ersten Schritt aus dieser düsteren Phase, als das dritte und letzte Rettungsprogramm auslief. Ende August 2022 endete auch die verstärkte finanzielle Überwachung durch die EU-Institutionen. Das Land unterliegt damit nur noch jenen finanzpolitischen Kontrollmechanismen, die auch bei den anderen Mitgliedsstaaten greifen.
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Laut IWF-Bericht vom Oktober 2022 wird Griechenland ab 2023 zu Primärüberschüssen zurückkehren und seine Staatsverschuldung weiter abbauen. Der Fonds geht davon aus, dass der gesamtstaatliche Primärüberschuss in diesem Jahr bei 0,9 Prozent des BIP liegen und bis 2027 auf 2 Prozent ansteigen wird. Dem Bericht zufolge wird der gesamtstaatliche Haushaltssaldo, einschließlich der Kapitalzahlungen auf den Schuldenstand, im Jahr 2023 ein Defizit von 1,9 Prozent des BIP aufweisen, ausgehend von einem Defizit von 4,4 Prozent in diesem Jahr, das auf 0,7 Prozent im Jahr 2027 fallen wird. Die Staatsverschuldung wird voraussichtlich von 199,4 Prozent des BIP im Jahr 2021 auf 149,9 Prozent im Jahr 2027 sinken. Das klingt alles rosig, aber: Griechenland hat zwar seine Schulden beim IWF abbezahlt, der Großteil der Hilfskredite war jedoch von der EU beigesteuert worden und wird erst in den nächsten 50 Jahren abbezahlt. Der Schuldenstand ist immer noch mit Abstand der höchste in der ganzen EU. Laut aktuellem Haushaltsentwurf der griechischen Regierung für 2023 wird die griechische Wirtschaft nach einem starken Aufschwung in diesem Jahr, der vor allem durch den Tourismussektor verursacht wurde, im Jahr 2023 langsamer wachsen – Ukraine-Krieg und Inflation werden (mindestens) kurzfristig dazu beitragen.
Mein Vater und seine Freunde trafen sich jahrelang im von Themis geführten Nachbarschaftscafé. Er hat das Café schließen müssen und irgendwie Arbeitsnachweise zusammengekratzt, um zumindest ein paar wenige hundert Euro Rente zu bekommen. In zahlreichen Gesprächen betonten die Freunde, dass es ja schön und gut sei, dass Griechenland wieder schwarze Zahlen schreibt, aber im Grunde wüssten sie alle, dass nicht wirklich etwas Sinnvolles aufgebaut worden sei. Tatsächlich hat Griechenland außer Tourismus und Olivenöl nicht viel zu bieten – die ganze Wirtschaft ist abhängig vom Dienstleistungssektor. Zu den Top-20-Unternehmen der Athener Börse gehören vor allem Banken, Bau- und Energiefirmen oder gar eine Wettgesellschaft. »Es wird hier schlicht und einfach nichts produziert«, hört man in jedem zweiten Taxi. Somit seien die »Hilfen« der Wirtschaftsinstitutionen im letzten Jahrzehnt nichts weiter als Steine in einem löchrigen Jenga-Turm, der immer wieder einzustürzen droht.
Am 5. Juli 2015 flog ich nach Griechenland, um meine Stimme beim Referendum über die Ablehnung oder Annahme der Reformen der Troika abzugeben. Damals holte mich mein Vater am Flughafen ab. Er hatte Tränen in den Augen. Im Laufe von drei Jahren hatte er sich von einem sozialdemokratischen Liberalen in einen Linken verwandelt und unterstützt seitdem klar die Linkspartei Syriza von Alexis Tsipras – sein neuer Andreas Papandreou. Letzterer war der sozialdemokratische Politstar in der Zeit von Griechenlands Aufschwung. Damals wurden die Sparmaßnahmen mit 61,31 Prozent der Stimmen abgelehnt, bei einer Wahlbeteiligung von über 60 Prozent. Alle wissen heute, wie die Geschichte ausging: Tsipras musste trotz Referendum auf Druck der Institutionen einlenken und katapultierte alle Träume eines linken Aufbegehrens in Europa ins Niemandsland. Dieser verlorene Hoffnungsschimmer hat ganz Südeuropa bis ins Mark getroffen – es war der Niedergang der linken Anti-Austeritäts-Bewegung.
Unter der aktuellen rechten Regierung haben sich alle Kämpfe in Verteidigungskämpfe um eigentlich selbstverständliche demokratische Rechte verwandelt. Oppositionspolitiker und Journalisten werden überwacht, die Polizei hat sich verselbstständigt, und Griechenland rutscht im Pressefreiheitsindex immer weiter nach unten. Im Frühling soll es wieder Wahlen geben. Die Hoffnung ist, dass die Jugend, wie schon so oft in der Nachkriegszeit, erneut zur Speerspitze einer progressiven Bewegung avanciert. Mein Vater schreibt derweil Gedichte. Über die aktuellen Auseinandersetzungen um Demokratie, aber auch um die Krise, die weiterhin ihre Schatten auf die griechische Gesellschaft wirft: »Armes Griechenland, was für eine Schande!/Keine Wiedergeburt für dich/obwohl du so vieles in die Welt gesetzt hast/Die anderen wurden wiedergeboren/und du lagst im Sterben/Nur wenige deiner Kinder/blühen in fremden Ländern.«
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