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Neue Verfassung hat weiter Priorität
Die kommunistische Abgeordnete Karol Cariola über die Perspektiven für Chile
»Chile wird das Grab des Neoliberalismus sein.« Das verkündete Gabriel Boric bei der Feier nach seinem Sieg im Dezember 2021 bei den Präsidentschaftswahlen. Im März 2022 trat Boric sein Amt an. Beherzigt seine Regierung, die von der Kommunistischen Partei Chiles unterstützt wird, diesen Satz?
Wir haben ein politisches Programm, das darauf abzielt, das Entwicklungsmodell des Landes zu verändern. Im Ursprung ist die Regierung antineoliberal. Aber bei dem derzeitigen Kräfteverhältnis ist es unwahrscheinlich, dass wir alle unsere Ziele erreichen werden. Jeder Schritt in diese Richtung trägt jedoch zur Veränderung des wirtschaftlichen Modells bei. Es ist aber unmöglich, dies in einer einzigen Regierungsperiode von vier Jahren zu tun. Derzeit arbeiten wir an einer neuen Verfassung, an einer Steuerreform, an einer Rentenreform, die den privaten Rentenfonds (AFP) ein Ende setzt, an einer Gesundheitsreform, die das Gesundheitssystem vereinheitlichen und den allgemeinen Zugang garantieren soll. Das sind die Säulen unserer Regierung, und es sind Maßnahmen, die die Existenz des Neoliberalismus angreifen.
Karol Cariola ist seit 2014 Abgeordnete für die Kommunistische Partei Chiles. Sie war von 2009 bis 2010 Präsidentin der Studierendenföderation der Universität von Concepción im Süden Chiles. Zusammen mit der derzeitigen Regierungssprecherin Camila Vallejo war Cariola während der Studierendenproteste von 2011 eine der Sprecherinnen der Bewegung. Das Interview ist eine gekürzte Fassung aus der im März 2023 erscheinenden zweiten Auflage von »Chile – auf dem Weg zu einer neuen Demokratie?«, Hrsg: Eva Schöck-Quinteros/Heiner Fechner.
Der erste Versuch, eine neue Verfassung zu bekommen, scheiterte am 4. September 2022 an der Urne. Nun steht ein neuer verfassungsgebender Prozess an. Er soll von einer Expert*innenkommission angeführt werden. Das wird ebenso wie die vorgegebenen Rahmenbedingungen stark kritisiert. Stimmen Sie der Kritik zu?
Ich teile die Kritik an der Art und Weise, wie die Gespräche geführt wurden, ich verstehe sogar die Kritik am Inhalt. Das neue Verfahren könnte umfassender und demokratischer sein. Aber das, was wir erreicht haben, ist Ausdruck unserer heutigen Stärke. Wir haben keine Mehrheit im Parlament und nach dem 4. September haben wir uns als Linke demoralisiert und zersetzt. Wir haben auf eine neue Verfassung gesetzt und verloren. Der Sieg des Gegner*innerlagers war zu deutlich, 62 gegen 38 Prozent.
Am 15. November 2019 hat die Kommunistische Partei das »Abkommen für Frieden und eine neue Verfassung«, mit dem der erste verfassungsgebende Prozess eingeleitet wurde, nicht unterzeichnet und den Ausschluss der sozialen Bewegungen aus der Vereinbarung kritisiert. Warum haben Sie das aktuelle Abkommen unterzeichnet?
Die Umstände am 15. November waren sehr anders als bei der jetzigen Vereinbarung. Damals gab es große soziale Mobilisierungen und eine starke soziale Vernetzung in den Vierteln. Die politischen Ausgangsbedingungen haben sich verschlechtert. Der vorherige Prozess scheiterte aus Gründen, die noch untersucht werden müssen. Es herrschte politisches Desinteresse, Unzufriedenheit mit der aktuellen Wirtschaftslage und der Regierung. Zudem müsste man blind sein, um zu übersehen, dass es zu anormalen Situationen kam, die viel Ablehnung hervorriefen. Wie der Fall des Konventsmitglieds Rojas Vade, der vorgab, Krebs im Endstadium zu haben, um gewählt zu werden. Dies trug dazu bei, die Arbeit des Konvents zu diskreditieren. Infolgedessen hatten die Menschen kein Vertrauen in das Resultat.
Wie wichtig ist eine neue Verfassung unter diesen Umständen?
Für uns ist eine neue Verfassung weiterhin eine Priorität. Wir sind davon überzeugt, dass die von der Diktatur hinterlassene Verfassung in Form, Ursprung und Inhalt illegitim ist. Im Kontext der aktuellen Ausgangslage, in der es keine Demonstrationen, keine wirkmächtigen sozialen Organisationen gibt, wo wir nicht die Stärke von 2019 haben, war es notwendig, eine Vereinbarung zu treffen, die es uns ermöglichen würde, eine Mehrheit der Stimmen im Parlament zu bekommen. Deshalb haben wir uns am politischen Dialog beteiligt. Es war besser, unter den Bedingungen, die uns zugestanden werden, teilzunehmen, als von außen zuzusehen. Ich hoffe, dass sich die sozialen Bewegungen neu artikulieren, um in diesem Prozess eine Rolle zu spielen. Die Entscheidungen dürfen nicht allein den politischen Parteien überlassen werden.
Gerade in Bezug auf soziale Bewegungen wird kritisiert, dass die derzeitige Regierung die Verbindung zu jenen Bewegungen verloren hat, die überhaupt den Wahlsieg ermöglicht haben. Teilen Sie diese Einschätzung?
Ich denke, dass es der Regierung nicht gelungen ist, eine dauerhafte und tiefere Verbindung zu den sozialen Organisationen herzustellen, zum Beispiel der feministischen Bewegung. Die Bewegungen müssen in der Regierungsagenda mehr Raum finden, nicht nur im Rahmen eines neuen Gesetzesprojektes gegen machistische Gewalt, sondern auch in Bezug auf andere Maßnahmen, die mit der Geschlechterungleichheit bei den Gehältern, Sicherheitsproblemen und der ursprünglichen Erklärung zu tun haben, diese Regierung sei feministisch. Die Kämpfe der verschiedenen sozialen Bewegungen sind ein wichtiger Motor für soziale Veränderung und Verteidigung des bisher Erreichten. Denn niemand kann garantieren, dass dieses politische Projekt in der nächsten Legislaturperiode fortgesetzt werden kann. Wenn die Rechten gewinnen, wird es einen gigantischen historischen Rückschlag geben.
Rechte Parteien legen in den Umfragen mehr und mehr zu. Wie soll auf diese Bedrohung reagiert werden?
Indem wir effektiv die Änderungen vorantreiben und sichtbar machen. Wir müssen unbedingt die Verbindung zu den sozialen Bewegungen beibehalten und wiederherstellen. Die politischen Kräfte haben die Pflicht, sich wieder mit den Bürgern in Verbindung zu setzen. Sonst geht der ganze gewonnene Raum, die ganze aufgebaute Legitimität verloren. Die Zustimmungswerte von Präsident Gabriel Boric sind in sehr kurzer Zeit tief gefallen. Es herrscht ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Dies muss ein Grund zur Sorge sein. Die Regierung hat keine Verbindung zur Bevölkerung, was letztlich den Weg zu Populismus, Faschismus und Totalitarismus öffnet. Ich halte es für sehr gefährlich, was passieren könnte, wenn es unserer Regierung nicht gelingt, den Kurs zu ändern und wieder mit der Bevölkerung in Kontakt zu treten, mit den Bürgern, die diese Regierung gewählt haben und mit den Bürgern, die nicht nur 2019, sondern auch 2011 und 2006 auf die Straße gegangen sind. Ich denke, hier gibt es eine Reihe von Aufgaben, die unbedingt angegangen werden müssen und die leider nicht ganz oben auf der Tagesordnung stehen.
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