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Das Kind im Farbenladen

Der Zauber Berlins – im Guten wie im Schlechten

  • Olga Hohmann
  • Lesedauer: 4 Min.
Nur ein weiteres phallisches Symbol: der Pinsel.
Nur ein weiteres phallisches Symbol: der Pinsel.

In meinem Haus befindet sich ein Farbenladen. Es gibt ihn schon immer, nicht erst seit ich denken kann, sondern wesentlich länger. Das ist keine Information, die ich als solche bekommen habe, sondern etwas, das ich einfach spüren kann – das hier ist eine Neighborhood-Institution. Der Laden verkauft auch Tapeten, die meisten haben golden oder silbern schimmernde Elemente. Man sieht Schwäne auf ihnen, Pfauen oder Blumenbouquets.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist, und versucht es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen.
dasnd.de/hohmann

Immer wenn eine meiner Freund*innen eine Tapete kaufen will, gehe ich mit ihr nach unten in den Farbenladen, denn ich bekomme Hausrabatt. Es gibt keinen anderen Laden in Berlin, in dem man Tapeten wie diese kaufen kann. Ein Freund, der eine Weile in meiner Wohnung wohnte, während ich in New York war, reparierte als Dankeschön einige Dinge in der Wohnung. Schränke, die unter der Last der Töpfe zusammenbrachen, die Aufhängung des Duschvorhangs, den Wäscheständer. Er kaufte auch ein Stück der Tapete, die seit den 80er Jahren, also vor meiner Geburt, in der Küche angebracht ist. Ich wusste nicht einmal, dass die Tapete aus dem Farbenladen stammte, obwohl man es sich hätte denken können – geschweige denn, dass sie immer noch zu erwerben war.

Im Fenster des Farbenladens steht, damals wie heute, ein Kind. Das Kind lacht von einer Seite zur anderen, man sieht ein paar Zähne hinter den gequält lächelnden Lippen hervorblinzeln. Es trägt einen weißen Maleranzug und hat einen Pinsel in der Hand, den es im selben Rhythmus hoch- und runter bewegt, all day long. Selbst wenn das Farbengeschäft geschlossen ist, ist das Fenster, hinter dem das Kind eingesperrt ist, beleuchtet. Tag und Nacht bewegt es den Pinsel auf und ab. Als ich ein Kind war, fing ich jedes Mal, wenn ich dieses andere Kind sah, an zu weinen. Es glich mir – und nicht. Die Ähnlichkeit zu einem echten Kind – mir – war besonders unheimlich. Tatsächlich im Freudschen Sinne: Das Unheimliche beinhaltet das Heimelige – das Kind wohnte ja im selben Haus wie ich selbst. Mit großer Hingabe zur Vergeblichkeit vollzog das Kind täglich die Sisyphusarbeit, das phallische Objekt mit borstiger Spitze immer im selben Rhythmus zu bewegen. Es ist unnötig zu sagen, dass es sich um eine Puppe handelt. Eine lebendige Puppe, wie in E. T. A. Hoffmanns »Der Sandmann«.

Im Schaufenster rechts neben der Puppe, das weiß ich erst, seit ich die Aufschrift lesen kann, also seit 24 Jahren, ist ein sogenannter Erotikpinsel ausgestellt. Abgesehen von diesen beiden Elementen ist der Laden aber extrem seriös. Ich kaufe mir gerne die duftende Seife für einen Euro fünfzig (Hauspreis: ein Euro zwanzig), die die Aufschrift »Künstlerseife« hat.

Als ich letzten Sommer bei meinem Standard-Lunch in dem Restaurant saß, das sich direkt neben dem Farbenladen befindet, wurde ich mal wieder verflucht. Berlin ist für mich eine verzauberte Stadt – dazu gehört auch die böse, abgründige Seite der Magie. Ich aß meine übliche Portion Karotten mit Hähnchenfleisch in Brühe serviert, was damals noch 6,50 Euro kostete und jetzt, seit der Inflation, sieben. Es beruhigt mich, dass es sich um ein Gericht handelt, das ich, eine miserable Köchin, mir sogar selbst kochen könnte, für den halben Preis, maximal. Ein Mann kam zu mir und fragte mich, ob ich ihm etwas von meinem Essen abgeben könnte – ich sagte, ich würde ihm stattdessen lieber mein Brot schenken, denn ich versuchte wahrscheinlich mal wieder Low-Carb-Ernährung. Er sah mich an und sagte mit klarer Stimme: »Du wirst niemals Kinder bekommen. Und das hätte deiner Mutter auch schon passieren sollen.«

Zwei Wochen lang wusste ich, dass ich niemals Kinder bekommen würde. Die Gewissheit war für mich weder besonders positiv oder negativ konnotiert, ich versuchte einfach, mir endgültig vorzustellen, was das heißen würde: ein Leben ohne »Nachfahren«, die sich um meinen Platz im Altersheim kümmern würden, ein Leben ohne Verhütung, ein Leben ohne diese spezifische körperliche Erfahrung, ein Leben mit Freund*innen als Ersatzfamilie.

Als ich zwei Wochen später wieder an derselben Stelle saß und das identische Mahl einnahm, kam der Mann wieder vorbei. Er fragte mich, leicht aggressiv, warum ich ihn so anstarren würde. Ich sagte: »Du hast mich vor zwei Wochen verflucht, seitdem weiß ich, dass ich keine Kinder bekommen werde.« Er sah mich an und sagte: »Das glaubst du? Du bist ja bescheuert.« Und ganz unverhofft hatte er, das Orakel, seine eigene Vorsehung wieder von mir genommen. Nun muss ich mich mit der Frage nach dem Kinderbekommen wohl doch wieder beschäftigen.

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