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Die City-Maut war nur der Einstieg

Wie London mit einer Stau- und einer Giftgebühr die Großstadtluft zu säubern versucht

  • Peter Stäuber, London
  • Lesedauer: 5 Min.

Am 17. Februar 2003 war Ken Livingstone nervös. »Ich warte nur darauf, dass etwas schiefläuft«, sagte der damalige Londoner Bürgermeister. Der Politiker der Labour-Partei stand im Verkehrskontrollzentrum der britischen Hauptstadt und verfolgte mit, wie das wichtigste Projekt seiner Amtszeit vom Stapel rollte. An jenem Tag führte London als erste westliche Metropole die sogenannte Congestion Charge ein, die Staugebühr. Das Prinzip dieser City-Maut ist einfach: Wer mit dem Auto oder Lastwagen ins Zentrum fährt, muss dafür bezahlen. Anfangs waren es fünf Pfund pro Tag. So sollten die chronisch verstopften Straßen im Londoner Zentrum beruhigt werden – nirgendwo im Land war der Verkehr damals so überladen wie in der Hauptstadt.

Der Widerstand gegen die Maut war zunächst groß. Die meisten Londoner waren skeptisch, das Lokalblatt »Evening Standard« schrieb dagegen an, und der Stadtbezirk Westminster versuchte sogar, das Vorhaben vor Gericht zu kippen. Selbst die regierende Labour-Partei hielt die Congestion Charge bloß für ein Steckenpferd von Bürgermeister Livingstone. Aber schon ein Jahr später war klar: Die City-Maut funktioniert. Im Zentrum waren 18 Prozent weniger Autos unterwegs, die Staus reduzierten sich um rund 30 Prozent. Diese Entwicklung war von Dauer, und heute, 20 Jahre nach ihrer Einführung, genießt die Staugebühr breite Akzeptanz unter den Londonern.

Der Erfolg der Maut verdankt sich auch der Tatsache, dass sie Teil einer breiteren Verkehrsstrategie war: Die Einnahmen sollten genutzt werden, um den öffentlichen Verkehr auszubauen. Am Tag, als die City-Maut eingeführt wurde, waren in London 300 zusätzliche Busse unterwegs. In den folgenden Jahren wurden Busrouten ausgebaut und die Ticketpreise tief gehalten. Zudem brachte die Londoner Verkehrsbehörde die zuvor privatisierten Regionalbahnen unter ihre Kontrolle und baute sie zur London Overground aus, einer Art Schnellbahn. Zwar klagen die Hauptstädter noch gern über überfüllte U-Bahnen und unregelmäßig fahrende Busse, aber im Vergleich zu anderen britischen Städten ist der ÖPNV hier ein Traum.

So weit so gut. Allerdings: Der Straßenverkehr hat in den vergangenen Jahren wieder deutlich zugenommen, trotz der Staugebühr, die mittlerweile auf 15 Pfund pro Tag heraufgesetzt worden ist. Schon 2016 waren die Straßen im Zentrum erneut heillos verstopft – noch ärger als zur Zeit, als die City-Maut eingeführt wurde. Letztes Jahr meldete das Forschungsinstitut Inrix, dass niemand auf der ganzen Welt so lange im Stau steht wie die Londoner. Der stärkere Betrieb auf den Straßen ist einerseits der wachsenden Bevölkerung geschuldet, andererseits und vor allem dem Aufstieg von Plattform-Lieferdiensten und -Taxen wie Uber, JustEat, Deliveroo und Amazon. Seit Uber vor zehn Jahren nach London kam, hat sich die Zahl der privaten Taxen fast verdoppelt, auf 90 000. Zum Vergleich: Von den ikonischen Black Cabs gibt es nur 21 000.

Wenig überraschend leiden die Londoner denn auch unter mieser Luftqualität. Fast alle Schulen in London – 98 Prozent – liegen in Quartieren, in denen die von der Weltgesundheitsorganisation empfohlenen Grenzwerte für die Luftverschmutzung überschritten werden; im Rest Englands sind es weniger als ein Viertel. Studien zeigen zudem, dass Kinder, die in verschmutzten Londoner Stadtteilen aufwachsen, rund fünf Prozent ihrer Lungenkapazität einbüßen. 2020 fällte ein Untersuchungsrichter ein wegweisendes Urteil: Luftverschmutzung habe zu einem »erheblichen Teil« den Tod eines neunjährigen Mädchens mitverantwortet. Ella Adoo-Kissi-Debrah, die nur 25 Meter von einer vielbefahrenen Straße in Südlondon wohnte, litt an chronischem Asthma und starb 2013 nach einer Attacke. Es war das erste Mal, dass in Großbritannien schmutzige Luft als Todesursache genannt wurde.

Aber in den vergangenen Jahren hat die Stadtbehörde viel unternommen, um die Schadstoffe in der Luft zu reduzieren – und dabei große Fortschritte erzielt. 2017 kam beispielsweise die Toxicity Charge, die »Giftabgabe« für ältere Diesel- und Benzinfahrzeuge, die nicht einmal der Abgasnorm Euro-4 entsprechen. Zwei Jahre später wurde die Ultra Low Emission Zone (ULEZ) eingeführt: In dieser Zone müssen die schmutzigsten Gefährte zusätzlich 12,50 Pfund Verschmutzungsgebühr entrichten. Die ULEZ deckte zunächst dasselbe Gebiet wie die City-Maut ab – die Folgen waren spürbar. Laut dem Bürgermeisteramt sind in dieser Zone an einem durchschnittlichen Tag 47 000 weniger alte, abgasintensive Autos unterwegs als vor Einführung der ULEZ; die Konzentration von Stickstoffdioxid ist merklich zurückgegangen. Daher wurde die Zone im Oktober erweitert auf weite Teile von Inner London, also der inneren Stadtbezirke. Jetzt will Bürgermeister Sadiq Khan noch weiter gehen: Ab August soll das ganze Gebiet von Greater London, rund 1500 Quadratkilometer, zu einer ULEZ gemacht werden.

Auch hat London in einen umweltfreundlicheren ÖPNV investiert: Die alten Dieselbusse wurden sukzessive aus dem Verkehr gezogen, und ältere Modelle erhielten neue Motoren. Seit zwei Jahren entsprechen alle 9000 Londoner Busse der Euro-6-Abgasnorm, der aktuell striktesten Stufe. Zudem sind seit 2019 mehrere Hundert Ladestationen für Elektroautos installiert worden.

All das hat Folgen gezeitigt: Seit 2016 haben Wissenschaftler eine stete Verbesserung der Luftqualität festgestellt. Studien zeigen, dass dies auch die Lebensqualität der Londoner verbessert hat, insbesondere die der Schulkinder. Ein neueres Arbeitspapier kommt zu dem Schluss, dass die Kampagne zur Luftverbesserung dazu geführt hat, dass in Schulen mit vielen Kindern aus ärmeren Verhältnissen – die überproportional unter schlechter Luftqualität leiden – weniger Abwesenheitszeiten von Schülern registriert wurden.

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