- Kultur
- Käthe-Kollwitz-Preis 2022: Nan Goldin
Momenthafter Trotz
Die Akademie der Künste in Berlin zeigt Fotografien der Käthe-Kollwitz-Preisträgerin Nan Goldin
Die Schnappschussfotografie ist ein Bildmedium, das sich immer wieder unter sich verändernden technischen Bedingungen behauptet hat. Entstanden ist sie mit dem Aufkommen von Fotoapparaten als Massenprodukt im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, vor allem sogenannter Boxkameras, und der Entwicklung von Sofortbildkameras in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Als auch die Kunstfotografie den Alltag als Motiv entdeckte, entwickelte sich ab den späten siebziger Jahren, hauptsächlich in New York, eine künstlerische Snapshot-Ästhetik, mit der sich Künstlerinnen und Künstler die Eigenschaften der Schnappschussfotografie wie Ubiquität, Unmittelbarkeit und Authentizität zu eigen machten.
Auch Nan Goldin, geboren 1953 in Washington, D.C., fängt, nachdem sie bereits mit 14 Jahren ohne ihre Eltern nach Boston gezogen ist, in ihrer Jugend an, Polaroid-Bilder von Freundinnen und Freunden aufzunehmen, später von ihren Bekanntschaften aus der queeren Community, die sie über den Fotografen David Armstrong und in der Bar mit dem signifikanten Namen The Other Side kennenlernt. Von Anbeginn ihres künstlerischen Schaffens wirken ihre Bilder tatsächlich wie Schnappschüsse. Sie fotografiert etwa Dragqueens vor, während oder nach deren Auftritten oder Freundinnen, die einsam oder zu zweit auf Betten in Schlafzimmern liegen. Die Welt außerhalb dieses intimen Mikrokosmos ist auf ihren Fotografien abwesend.
Ihrem politischen und ästhetischen Anspruch, in der Öffentlichkeit unterrepräsentierten und diskriminierten Gruppen zu Bildern zu verhelfen, bleibt Goldin auch nach ihren ersten Ausstellungen und ihrem Fotografiestudium in Boston treu. 1978 zieht sie nach New York und dokumentiert weiterhin das Nachtleben queerer Subkultur und das Leben ihres sozialen Umfelds, ihrer »erweiterten Familie«, wie es Goldin selbst nennt. Zu dieser Zeit entsteht auch ihre bekannteste Arbeit, »The Ballad of Sexual Dependency«, deren Titel der »Ballade von der sexuellen Hörigkeit« aus Brechts »Dreigroschenoper« entnommen ist.
»The Ballad« ist ein 45-minütige Diaprojektion, die Goldin in New York in Nachtclubs und Kinos zeigte, unterlegt mit Musik unter anderem aus Brechts Oper, von The Velvet Underground, Nina Simone und James Brown. Die Bilder, die Goldin explizit als Kampf um Anerkennung verstand, zeigen sowohl die Schwulen-, Lesben- und Transvestiten- als auch die Drogenszene New Yorks, später auch die dortige Aids-Epidemie. Sie erweiterte den Werkkomplex bis in die späten achtziger Jahre auf über 700 Fotografien. Auch intime Momente sind darin festgehalten, etwa auf der vielleicht bekanntesten Fotografie aus dieser Werkreihe, »Brian and Nan in Bed, New York City« von 1983, die Goldin liegend im Bett mit ihrem damaligen Liebhaber zeigt, der aufrecht, oberkörperfrei und rauchend neben ihr sitzt.
Diese ist nun neben ungefähr 60 weiteren Fotografien in der Akademie der Künste in Berlin zu sehen, anlässlich der Verleihung des Käthe-Kollwitz-Preises 2022 an Nan Goldin (3. März 2023). Die Ausstellung ist gleichsam selbst kuratiert wie eine Diashow, zeigt die Fotografien, die von den Anfängen Goldins künstlerischer Arbeit bis in die Gegenwart reichen, in einem nur losen Zusammenhang. Sie stehen nicht immer in einer örtlichen, zeitlichen oder ästhetischen Beziehung zueinander. Das lenkt die Betrachtung eher auf Goldins Sujets. Ihre in New York aufgenommenen Motive weichen zwar nicht sehr von früheren ab, doch erst in dieser Stadt entwickelt sie in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren eine eigene Snapshot-Ästhetik. So fotografiert sie immer wieder vor Spiegeln stehende oder sitzende Personen, die ausschnitthaft nur durch jene zu sehen sind, beispielsweise in Garderoben queerer Nachtclubs. Spiegel bestätigen und verwirren die Identität des Subjekts, indem sie dessen Bild doppeln und rahmen. Das wird in ihren Bildern deutlich.
Auch in formaler Hinsicht werden Goldins Fotografien zu dieser Zeit bestimmter. Die Farbgebung ihrer Bilder – von leuchtenden Rottönen über fahle Grüntöne bis zu metallischen Blautönen – verleiht ihnen eine je spezifische Atmosphäre: im Schlafzimmer die Intimität von Beziehungen, im Badezimmer das Bedrückende der Einsamkeit, etwa auf der Fotografie »Self-portrait in blue bathroom, London«, das Goldin selbst – und auch hier: im Spiegel – zeigt. Auch die soziale Repression der von ihr Fotografierten spiegelt sich zunehmend eindringlicher in ihren Bildern wider. Goldin verleiht ihnen wie den Abgebildeten durch den Einsatz von Blitz einen Glanz, sie leuchten zuweilen förmlich, als ob ein Scheinwerfer von außen auf sie gerichtet wäre. Doch zugleich entsteht dadurch auf den Fotografien an den Rändern ein Schatten, eine Art Passepartout, der jedoch weniger das Bild rahmt, als dass er dieses und die Personen darauf zu bedrohen scheint, ihre Vergänglichkeit offenbart. Er ließe sich tatsächlich auch als gesellschaftlicher Rahmen lesen. Besonders eindrücklich ist das auf dem Bild »Wedding bed, Nürnberger Eck« von 1996 zu sehen, das Goldin während ihres längeren Aufenthalts im gleichnamigen Berliner Hotel aufgenommen hat, oder, aus jüngerer Zeit, auf einer Fotografie ihrer Freundin Thora Siemsen, die nackt auf ihrem Bett liegt (»Thora on my white bed, Brooklyn, NY« von 2020).
Überhaupt thematisiert Goldin auf ihren Bildern immer wieder die Vergänglichkeit des Lebens. So zeigt sie befreundete Aids-Kranke auf dem Sterbebett oder in einer verschwommenen Aufnahme den Pariser Friedhof Père-Lachaise. Beinahe grotesk dagegen wirken ihre wenigen Landschaftsfotografien als düsterer Ausdruck der vermeintlichen Beständigkeit äußerer Natur. Momentaufnahmen sind Goldins Fotografien nicht zuletzt deshalb, weil sie auf ihnen etwas darstellt, das immer schon flüchtig und vergänglich ist, aber der Vergänglichkeit momenthaft trotzt. Auf ihren Fotografien ist das vor allem: Intimität.
»Käthe-Kollwitz-Preis 2022. Nan Goldin«, bis zum 19. März, Akademie der Künste (Standort Hanseatenweg), Berlin
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.