Entwicklungsmodell soll nachhaltig werden

Brasiliens neue Umweltministerin Marina Silva wirbt um internationale Unterstützung beim Schutz der Regenwälder im Amazonas

  • Knut Henkel
  • Lesedauer: 6 Min.
Die indigenen Völker Brasiliens spielen beim Schutz der Regenwälder eine wichtige Rolle.
Die indigenen Völker Brasiliens spielen beim Schutz der Regenwälder eine wichtige Rolle.

Zum zweiten Mal in Ihrer politischen Karriere leiten Sie Brasiliens Umweltministerium. Vier Jahre Bolsonaro-Regierung haben ein schweres Erbe hinterlassen. Welche Schwerpunkte wollen Sie als Ministerin setzen?

Bolsonaros Kahlschlagpolitik

Im letzten Monat der Amtszeit des ehemaligen brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro erreichte die Abholzung im Amazonas-Regenwald noch einmal einen Rekord im Vergleich zum Vorjahres-Niveau. Wie das staatliche Beobachtungsprogramm Deter ermittelte, wurden im vergangenen Dezember 218,4 Quadratkilometer Regenwald vernichtet – eine Steigerung um mehr als 150 Prozent gegenüber den 87,2 Quadratkilometer Wald, die im Dezember 2021 gefällt oder brandgerodet wurden.
Unter dem der Agrar-Lobby nahestehenden Präsidenten Bolsonaro hatte die Zerstörung des brasilianischen Regenwalds stark zugenommen. 2021 wurden laut dem Brasilianischen Institut für Weltraumforschung (INPE) 13 038 Quadratkilometer entwaldet, der höchste Wert seit elf Jahren und eine direkte Folge einer Politk der wirtschaftlichen Erschließung der Amazonas-Region für Soja-Anbau und Weidewirtschaft.
Die neue Regierung von Lula da Silva hat angekündigt, die Abholzung stoppen und Schutzprogramme reaktivieren zu wollen. Die Zeit drängt: Zum einen macht sich in Brasilien immer stärker eine Wasserknappheit durch weniger Niederschläge aufgrund einer sich verkürzenden Regenzeit bemerkbar. Zum anderen rückt global der Klima-Kipppunkt näher. So wird der Punkt genannt, an dem das Weltklima entscheidend aus dem Gleichgewicht geraten würde. Nach Berechnungen von Klimaforschern könnte für das Erreichen dieses Kipppunktes bereits der Verlust von 20 bis 25 Prozent der Amazonas-Walddecke ausreichen. Studien zufolge sind bereits rund 18 Prozent des brasilianischen Amazonas entwaldet, der rund sechzig Prozent des gesamten Regenwaldes im Amazonasbecken ausmacht.
Mitverantwortlich für die Entwicklung ist eine Politik, die Goldgräbern, Agrarfirmen und Holzunternehmen das Eindringen in die Region erleichtert hat. Dagegen hat die neue Regierung von Lula da Silva erste Maßnahmen ergriffen. Mitte Februar wurde gegen Goldgräber im Yanomani-Schutzgebiet vorgegangen. Die Umweltbehörde Ibama erhielt dabei Unterstützung von Armee und Polizei. Sie hat angekündigt an, dass die Räumung der Region von illegalen Goldsuchern bis zu einem Jahr dauern könne. GPS-gestützte Frühwarnsysteme sollen künftig vorbeugend zum Einsatz kommen, erklärte das Umweltministerium. Brasilien wirbt international um Mittel für den Erhalt des Regenwalds – hierzu war 2008 von der brasilianischen Regierung und der brasilianischen Entwicklungsbank BNDES ein Fonds zum Schutz des Amazonas-Regenwaldes gegründet worden, in den Deutschland und Norwegen einzahlen und der unter Bolsonaro auf Eis lag. Von der Lula-Regierung wurden die Gremien des Fonds wieder reaktiviert. Die internationalen Geldgeber geben nun wieder Mittel frei.  kh

Unsere zentrale Herausforderung lautet Wiederaufbau. Wir müssen wiederherstellen, was in den letzten vier Jahren oft bewusst zerstört wurde – zumindest das, was noch zu retten ist. Dafür brauchen wir internationale Unterstützung von Ländern wie Deutschland oder Norwegen, die Brasilien in dieser schweren Situation beistehen – politisch, moralisch, aber auch finanziell. Wir brauchen Ressourcen, um die Arbeit wieder aufnehmen zu können, die teilweise zum Erliegen gekommen ist, und da gibt es finanzielle Engpässe.

Deshalb ist es einfach wichtig, finanzielle Unterstützung zu erhalten, um schnell in der Amazonasregion aktiv werden zu können. Gelder, die in den Amazonas-Fonds fließen sollten und eingefroren waren, könnten jetzt freigegeben werden, um uns den Anfang zu erleichtern. Wir müssen verhindern, dass der Raubbau an der Natur dort weitergeht. Indigene Völker sehen sich einer Invasion von Goldsuchern gegenüber, die sie bedrängen. Wir müssen unser Wirtschaftsmodell nachhaltiger gestalten, brauchen Internet für die indigenen Gemeinschaften, Märkte für ihre Produkte …

Wie will die Regierung von Präsident Lula da Silva eine Wende in der Umweltpolitik erreichen?

Wir haben einige strategische Ziele für die kommenden Monate. Dazu zählt die Umsetzung der Verpflichtungen aus dem Pariser Abkommen zum Klimawandel. Bis 2030 wollen wir ein Ende der Abholzung, des Verlusts von tropischem Regenwald erreichen. Das Ziel Null-Kahlschlag ist anspruchsvoll nach den vier Jahren eines klimapolitischen Blackouts unter Bolsonaro, aber wir reden über öffentliches Land, über 57 Millionen Hektar Regenwald. Die gilt es zu verteidigen und zu erhalten. Diese Flächen sollen geschützt und nachhaltig genutzt werden. Den indigenen Völkern kommt dabei eine zentrale Rolle zu.

Der Schutz dieser 57 Millionen Hektar ist nicht nur Aufgabe des Umweltministeriums. Ein Dutzend weitere Ministerien arbeiten mit uns an einem Konzept, um den Wiederaufbau staatlicher Strukturen und die Maßnahmen zur Bewahrung des Amazonas abzustimmen. Es geht um eine integrative Politik, die den Agrarsektor, die Industriepolitik und eine ganze Reihe anderer Ressorts umfasst.

Brasilien ist der weltweit größte Soja-Bohnen-Produzent. Gefährdet die Soja-Lobby diesen neuen Politikansatz?

Es gibt in Brasilien 8 Millionen Quadratkilometer Anbauflächen. Genug Fläche für das industrielle Agrarbusiness, genug für den kleinbäuerlichen Anbau, für die familiäre Agrarwirtschaft oder andere traditionelle Anbaukonzepte – es gibt ausreichend Land. Wir müssen es nur vernünftig verteilen und ein nachhaltiges Anbaumodell für unsere Agrarwirtschaft entwickeln.

Experten sind sich sicher, dass wir unsere Produktion verdoppeln können – mit der vorhandenen Fläche und bereits existierender Technologie. Das ist die Zielsetzung unserer Regierung und das alles geht mit Null-Waldzerstörung. Wir streben einen Umbau an, wir müssen lernen mit unseren Ressourcen besser, nachhaltiger umzugehen, mit den Wasserressourcen, aber auch mit der Energie – wir brauchen einen deutlich nachhaltigeren Energiemix.

Wie wollen Sie das den Agrarproduzenten beibringen, die zusätzliche Flächen im Visier haben?

Regenwald nachhaltig zu nutzen, bedeutet nicht Geld zu verlieren, Regenwald zu schützen, bedeutet Werte zu erhalten. Gerade im Kontext des Klimawandels ist das wichtig und muss sich auch in den Zertifizierungssystemen niederschlagen. Der Waldschutz, die Erhaltung des Regenwaldes muss attraktiver werden als den Regenwald zu zerstören, um auf der freien Fläche Weideland oder Anbauflächen anzulegen.

Wir müssen auch begreifen, dass es einen Kipppunkt gibt, einen Punkt, an dem wir nicht mehr umkehren können. Wir haben bereits kürzere Regenzeiten, die sich negativ bemerkbar machen und das schädigt unsere landwirtschaftliche Entwicklung – es führt zu Verlusten in Höhe von Milliarden US-Dollar. Darüber sollten wir ebenfalls reden. Mittlerweile sind es 27 Tage, die die Regenzeit später einsetzt – das ist dramatisch. Der Schutz des Regenwaldes kommt der gesamten Agrarwirtschaft zugute.

Brasilien ist ein zutiefst ungleiches Land – die Einkommenskonzentration ist extrem. Gibt es einen Zusammenhang mit dem Klimawandel?

Ja, natürlich. Je weniger nachhaltig unsere Wirtschaftspolitik ist, desto ungleicher sind die Strukturen, die wir schaffen. Wir brauchen eine Trendwende, einen Übergang zu Produktionsstrukturen, die nachhaltiger sind und die die Bevölkerungsschichten, die am verletzbarsten sind, besser schützen. Dazu gehört die Bevölkerung, die unter Starkregen, Überschwemmungen und anderen Wetterphänomen leidet. Solche Phänomene nehmen zu. Wir hatten das kürzlich im Süden von Bahia, in Minas Gerais, Sāo Paulo und Rio de Janeiro. Neben den wirtschaftlichen Schäden waren auch Menschenleben zu beklagen. Der Kampf gegen die Ungleichheit ist auch ein Kampf gegen den Klimawandel – er hat viele Facetten. Derzeit sind es immer öfter die Menschen, die in den Armutsgürteln rund um die großen Städte leben, die von seinen Auswirkungen hart getroffen werden – Überschwemmungen in von Trockenheit geprägten Regionen sind dafür ein Beispiel.

Wie lange wird es nach Ihrer Einschätzung dauern, um die von der Regierung unter Jair Bolsonaro verursachten Probleme im Umweltsektor zu beseitigen und Erfolge beim Klimaschutz zu erzielen?

Wir können nicht zaubern. Ich bin mir sicher, dass wir deutlich länger als die vier Jahre brauchen, in denen Jair Bolsonaro Brasilien und seine demokratischen Strukturen nachhaltig beschädigt hat, um all das wieder aufzubauen. Die neue Regierung ist eine des demokratischen Wiederaufbaus. Der Klimawandel und die internationale Agenda, um ihn zu stoppen, stellt uns heute vor noch größere Herausforderungen. Wir haben bei ihrer Bewältigung deutlich mehr als vier Jahre verloren, denn die Regierung Bolsonaro hat die Politik des Klimaschutzes mit Füßen getreten, sie ins Gegenteil verkehrt und den Regenwald zur Abholzung freigegeben. Wir haben dadurch große Flächen verloren, das belegen alle Quellen. Es braucht einen wirklichen Neuanfang. Dafür ziehen nun dreizehn Ministerien an einem Strang, bekämpfen die Abholzung, Missbrauch bei der Landnutzung und haben als Zielsetzung die Null bei den CO2-Emissionen ausgegeben.

Politisch ist Brasilien weiter ein tief gespaltenes Land. Wie will die neue Regierung die große Mehrheit der Bevölkerung hinter sich bringen?

Präsident Luiz Inácio Lula da Silva hat von Beginn an betont, dass er Präsident aller Brasilianer und Brasilianerinnen sein will und so macht er auch Politik: für alle. Es ist ein Problem, dass es Bevölkerungsgruppen gibt, die die Erderwärmung, den Klimawandel bestreiten, die ein Weitermachen wie bisher präferieren – doch auch diese Menschen werden letztlich von der Politik der Regierung profitieren. Wir müssen allerdings schnell erste Ergebnisse erzielen. So überzeugen wir die Bevölkerung von unserer Politik der Transition zu einer ökologisch nachhaltigen Wirtschaft.

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