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Armutsfalle Pflegeheim
Krankenkasse will die Sozialhilfequote auf 30 Prozent begrenzen
Menschen, die selbst länger in einem Pflegeheim leben, werden sich entsinnen: Ab Januar vergangenen Jahres blieb plötzlich mehr Geld auf dem Konto. Gestaffelt nach der bereits in der stationären Pflege verbrachten Zeit wurden die Eigenanteile für die Pflegeleistungen abgesenkt. Den größten Nutzen davon hatten jene Heimbewohner, die am längsten dort lebten.
Dieser Effekt ist aber inzwischen für viele schon wieder so gut wie verpufft. Auch eine andere Verbesserung, das Wohngeld plus zur Unterstützung von Menschen mit niedrigen Einkommen, dürfte bald durch weiter wachsende Gesamt-Eigenanteile für die Heimbewohner egalisiert sein. Entsprechende Berechnungen stellte der Gesundheitsökonom Heinz Rothgang aus Bremen am Dienstag vor. Im Auftrag der Krankenkasse DAK-Gesundheit hatte der Forscher noch einmal die Entwicklung der Eigenanteile seit 2017 genauer unter die Lupe genommen.
Die Eigenanteile der stationären Pflege setzen sich aus drei Komponenten zusammen: Investitionskosten, Kosten für Unterbringung und Ernährung sowie Kosten für Pflegeleistungen. Der letztgenannte Posten betrug 2017 im Schnitt 576 Euro, aktuell liegt er bei 1244 Euro. Im Dezember 2022 waren es noch 1067 Euro. Dieser Sprung zum Jahreswechsel bildet auch die Mehrkosten für die jetzt tarifvertraglich bezahlten Pflegekräfte ab.
Nach Rothgangs Berechnungen dürfte der Eigenanteil allein für die Pflege im Sommer 2026 dann bei 1747 Euro liegen, wenn hier gesetzlich nicht eingegriffen wird. Selbst mit den Effekten der bisherigen Reformschritte wäre dieser Eigenanteil Mitte 2026 um 86 Prozent angestiegen, nämlich auf im Schnitt 1069 Euro. Hierbei muss bedacht werden, dass Menschen, die kürzer als ein Jahr stationär gepflegt werden, nicht von der Deckelung der Kosten profitieren. Zudem leben in der Regel nur 30 Prozent der Heimbewohner länger als drei Jahre in den Einrichtungen. In der Mehrzahl versterben sie vorher, weil die Entscheidung für diese Pflegeform in der Regel erst möglichst spät getroffen wird.
Hinzu kämen aber immer noch die beiden anderen Bestandteile. Bei den Unterhalts- und Verpflegungskosten ist relativ sicher absehbar, dass auch diese weiter ansteigen. Die DAK hat sich bei ihrem Vorschlag für Reformen entschieden, als überschaubares Kriterium für Veränderungen die Sozialhilfequote der Heimbewohner ins Zentrum zu stellen. Wenn die Renten und die Zahlungen der Pflegekassen zur Finanzierung der Heimkosten nicht mehr ausreichen, rutschen die Betroffenen in die Sozialhilfe. Nach aktuell gültiger Regel müssen dann die Sozialämter und damit die Kommunen, einspringen. Gerade diese »Sozialhilfefalle« sollte ursprünglich mit der Einführung der Pflegeversicherung vermieden werden, erinnert Rothgang.
Aktuell steigt die Quote aber kontinuierlich weiter an. 2022 waren 30 Prozent der Heimbewohner Sozialhilfeempfänger, in diesem Jahr sind es schon wieder 32,5 Prozent, im kommenden Jahr könnten es 34,2 Prozent sein, wenn die Bedingungen so bleiben wie jetzt. »Damit hatten die Reformelemente nur einen begrenzten, vor allem aber einen temporären Effekt«, betont Rothgang. DAK-Chef Andreas Storm fordert nun eine Begrenzung der Sozialhilfequote auf 30 Prozent, so wie sie 2022 kurzfristig wieder erreicht war. Eine weitere Absenkung erscheint schwierig.
Insgesamt hält der DAK-Vorstand es für problematisch, wenn Menschen lebenslang erwerbstätig waren und am Ende finanziell massiv eingeschränkt werden. In der Praxis heißt Sozialhilfe im Heim, dass nur wenige Euro Taschengeld pro Woche gewährt werden. »Das reicht dann noch für ein Eis für den Enkel, aber nicht für zwei«, illustriert das Rothgang. Der Bremer Forscher weist darauf hin, dass Durchschnittsrenten im Westen bei den Männern 1200 Euro betragen, bei Frauen in der Regel unter 1000 Euro. »Die Belastung durch die Heimkosten ist doppelt so hoch wie die durchschnittlichen Renten.«
Abhilfe könnte die Bundesregierung schon schaffen, wenn sie ihren Koalitionsvertrag umsetzt. Hier setzt DAK-Chef Storm mit den Forderungen seiner Kasse an: So sollte, wie vorgesehen, die Ausbildungskostenpauschale aus den Pflegekosten herausgenommen werden, da es sich dabei um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe handelt. Die nach Aufenthaltsdauer gestaffelten Leistungszuschläge seien zu erhöhen. Mit weiteren Schritten ergäbe sich hier ein zusätzlicher Finanzbedarf von vier Milliarden Euro pro Jahr allein für die stationäre Pflege.
Dieser Bereich ist aber nicht das einzige Sorgenkind. Damit Menschen gar nicht erst ins Pflegeheim kommen, müsste laut Storm die ambulante Pflege deutlich gestärkt werden. Die 2,25 Millionen Pflegegeldbezieher wurden bei den letzten Reformen schlicht vergessen, der Betrag seit 2017 nicht mehr erhöht. Allein die aktuelle Inflation gebiete eine Erhöhung um zehn Prozent, sagt Storm. Neben einer jährlichen Dynamisierung sollte hier endlich das Entlastungsbudget für Kurzzeit- und Verhinderungspflege auf den Weg gebracht werden.
Die Zeit für weitere Reformen drängt auch, weil ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur Berücksichtigung der Kinderzahl bei den Beiträgen umgesetzt werden muss. Am Ende muss eine faire Mischung dafür gefunden werden, zu welchen Anteilen der nötige Bedarf von wem finanziert wird. Aus Bundesmitteln sollten 7,5 Milliarden Euro aufgebracht werden, meint die DAK. Weitere 6,5 Milliarden würden sich aus einer Beitragssatzanhebung um 0,4 Prozentpunkte ergeben.
Aber darüber hinaus gibt es laut DAK Reformbedarf in der Pflege. Eine weitere Baustelle sind fehlende Zahlungen der Bundesländer für Investitionskosten der Pflegeheime. Das sei erst gar nicht als realistische Forderung in den Vorschlag aufgenommen worden, heißt es, mit Verweis auf die Weigerung der Länder, ihre Pflichten bei den Krankenhausinvestitionen zu erfüllen.
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