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Zerstörtes Land
Der Krieg verursacht in der Ukraine gesellschaftliche und wirtschaftliche Verwüstungen, die das Land auf Jahre prägen werden
Bevölkerung
Wie viele ukrainische Soldaten ihr Leben verloren haben, ist ein Staatsgeheimnis. Als EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Dezember von 100 000 gefallenen Ukrainern twitterte, war die Empörung in Kiew groß. Die Ukraine habe zwischen 10 000 und 13 000 Soldaten verloren, viele durch Verletzungen, verlautbarte der ukrainische Präsidentenberater Mychailo Podoljak. Bilder und Videos von der Front und von Friedhöfen deuten darauf hin, dass die Zahl deutlich höher liegen dürfte. Allein bei den aktuellen Kämpfen um die Stadt Bachmut sollen beide Seiten pro Tag 100 Soldaten verlieren.
Bei der Zahl der in Mitleidenschaft gezogenen Zivilisten ist die Situation ähnlich. Am 21. Februar sprach der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte, Volker Türk, von 8006 getöteten und 13 287 verwundeten Zivilisten in der Ukraine, darunter 487 getötete und 954 verletzte Kinder. Allerdings, so räumte Türk ein, bilden die verfügbaren Zahlen lediglich einen Ausschnitt des Gesamtbildes ab, den UN-Experten fehlen unter anderem Angaben aus den besetzten Gebieten im Osten des Landes. 18 Millionen Ukrainer brauchen nach UN-Angaben dringend humanitäre Hilfe.
Russlands Angriff hat in der Ukraine große Fluchtbewegungen ausgelöst. Laut Türk sind 14 Millionen Menschen innerhalb des Landes oder ins Ausland geflohen, die Ukraine selbst sprach im Dezember von 11,5 Millionen. In Kiew geht man davon aus, dass viele ins Ausland geflüchtete Ukrainer nicht wieder zurückkommen werden. Der Krieg könnte den anhaltenden Bevölkerungsrückgang im flächenmäßig zweitgrößten Land Europas beschleunigen. Ukrainische Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Bevölkerung bis 2035 auf 35 Millionen schrumpft, kurz vor Kriegsbeginn waren es etwas mehr als 41 Millionen. Nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1991 waren es knapp 52 Millionen.
Infrastruktur
Die Bilder der fast völlig zerstörten Hafenstadt Mariupol gingen um die Welt. Sie zeigten, wie Russen und Ukrainer um jedes Haus kämpfen. Aber auch weit hinter der eigentlichen Front gibt es beinahe täglich Drohnen- und Raketenangriffe auf die Infrastruktur und Wohnhäuser. Zwischen zehn und zwölf Millionen Tonnen Schutt von zerstörten Gebäuden seien in den ersten elf Kriegsmonaten angefallen, schätzt Ruslan Strilez, Minister für Umweltschutz und natürliche Ressourcen. Das entspricht der Jahresmenge an festem Haushaltsmüll im Land. Aktuell besetzte Gebiete sind dabei nicht einbezogen.
Nach Berechnungen der Kyiv School of Economics wurden seit Kriegsbeginn 149 300 Wohnhäuser, 1131 Gesundheitseinrichtungen und 3021 Bildungseinrichtungen zerstört oder beschädigt. Den Gesamtschaden beziffert die Hochschule auf knapp 138 Milliarden US-Dollar, 54 Milliarden entfallen davon auf Wohngebäude und 35,6 Milliarden auf die Verkehrsinfrastruktur.
Seit Monaten nimmt die russische Armee verstärkt die Wärme- und Elektrizitätsversorgung ins Visier. Zehn Prozent der entsprechenden Infrastruktur gelten als zerstört, 50 Prozent als beschädigt. In vielen Landesteilen wird der Strom deswegen zwischendurch abgestellt. Helfen sollen Dieselgeneratoren, die aus vielen Ländern gespendet werden. Dank ihnen können Wohnungen beheizt und Krankenhäuser in Betrieb gehalten werden. Zeitgleich wird der enorme Dieselverbrauch zum ökologischen Problem. Bereits jetzt sind in vielen beschädigten Fabriken Giftstoffe ins Erdreich gelangt. Mehrere Beobachter warnen zudem vor den Folgen eines möglichen Zusammenbruchs der Trinkwasserversorgung, die heute zu 20 Prozent aus dem Dnipro stammt.
Löhne und Arbeit
Ende Dezember präsentierte der Ukraine Rentenfonds eine bemerkenswerte Zahl: 13 376 Hrywnja (339 Euro) betrug das Durchschnittseinkommen im Jahr 2022. Das sind drei Prozent mehr als im Vorjahr. Allerdings wurde die einheimische Währung laut Statistikbehörde durch eine Inflationsrate von 26,6 Prozent im Jahresverlauf extrem abgewertet. Viele Waren wurden dadurch teuer, Lebensmittel um 27 Prozent und Heizstoffe gar um 56 Prozent. Über das Jahr 2022 seien die Reallöhne deswegen tatsächlich um 16 Prozent gesunken, rechnet die Zentralbank vor.
Bei den Arbeitslosenzahlen überraschte die ukrainische Regierung vor wenigen Tagen. Im Januar seien lediglich 166 000 Menschen auf der Suche nach Arbeit gewesen, davon 116 000 Frauen, gab die Arbeitsagentur bekannt. Ein Jahr zuvor waren noch 315 000 Menschen in der Ukraine erwerbslos. Das sind jedoch nur die registrierten Arbeitslosen. Laut ukrainischer Nationalbank, deren Statistik auf Methoden der Internationalen Arbeitsorganisation beruht, waren 2022 2,9 Millionen Ukrainer ohne Job, was einer Arbeitslosenquote von gut 30 Prozent entspricht. Durch den Krieg wurde die Ukraine im Kampf gegen die Armut um 15 Jahre zurückgeworfen, hielt der Regionaldirektor der Weltbank, Arup Banerji, fest.
Wirtschaft
Die ukrainische Wirtschaft, bereits vor dem Krieg eine der schwächsten des Kontinents, wurde durch die Invasion in eine schwere Krise gestürzt. Um ein Drittel brach die Wirtschaftsleistung laut Internationalem Währungsfond (IWF) ein. Das Bruttoinlandsprodukt des Landes reduzierte sich von 200 Milliarden US-Dollar 2021 auf 120 bis 130 Milliarden US-Dollar.
Betroffen sind alle Wirtschaftsbereiche, insbesondere die wichtige Schwermetallbranche und die Landwirtschaft. Der Ukrainische Klub für Agrarbusiness rechnet für 2023 mit einer Anbaufläche von 8,7 Millionen Hektar, das sind 45 Prozent weniger als vor dem Krieg. Zudem soll die Ernte 15 Prozent weniger Ertrag bringen, womit sie 60 Prozent unter dem Niveau von 2021 liegt. Die Metallproduktion ist nach Schätzung um 70 Prozent eingebrochen. Das hat auch Auswirkungen auf den Export, der um 38 Prozent zurückging. Lediglich die Ausfuhren in die Europäische Union wuchsen leicht (4,2 Prozent). Das Handelsdefizit betrug im vergangenen Jahr elf Milliarden US-Dollar. Die Nationalbank hofft, dies durch internationale Hilfen auszugleichen. Für die Zukunft ist der IWF leicht optimistisch. Ab dem zweiten Quartal 2023 soll sich die ukrainische Wirtschaft wieder ein wenig erholen und das BIP um einen Prozentpunkt auf 68 Prozent des Vorkriegsniveaus steigen.
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