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Großer Hype um den Außenseiter in Nigeria

Bei den Präsidentschaftswahlen in Nigeria will der unabhängige Kandidat Peter Obi mit den Stimmen der Jugend an die Macht

  • Heinrich Bergstresser
  • Lesedauer: 5 Min.

Wenn es seit der Unabhängigkeit 1960 eine Konstante im »System Nigeria« gibt, dann diese: Erwarte immer das Unerwartete. Das gilt auch für den heutigen Samstag, wenn die Wahllokale in den 36 Bundesstaaten und der Hauptstadt Abuja öffnen und 87 Millionen Berechtigte – sechs Millionen Wahlkarten wurden nicht rechtzeitig registriert – den zweistufigen mehrwöchigen Abstimmungsprozess mit der Präsidentschaftswahl und der Wahl zur Nationalversammlung einläuten. Im März finden dann die Wahlen der Gouverneure, die als Lokalfürsten über beträchtliche Macht verfügen, und die Wahlen zu den weniger einflussreichen Parlamenten der Bundesstaaten statt.

Nicht nur die Nachbarstaaten, auch die energiehungrige EU und Indien blicken gespannt nach Nigeria, den mit mehr als 210 Millionen Einwohnern bevölkerungs- und energiereichsten Staat Afrikas. Denn es steht ein Machtwechsel bevor. Der amtierende Präsident, einstiger Putschist und radikaler Verfechter eines puristischen Islam in den islamisch geprägten Landesteilen, Muhammadu Buhari, darf nach zwei Amtszeiten nicht mehr antreten.

Wer zieht am 29. Mai in den Präsidentenpalast in Abuja ein? Die Frage hat an Brisanz und Dynamik gewonnen, ist doch aus einem lange Zeit absehbaren Zweikampf nun ein Dreikampf um das höchste Staatsamt entbrannt. Weitere 15 Kandidaten, darunter eine Frau, sind bestenfalls Zählkandidaten. Und sollte es orchestrierte Bestrebungen gegeben haben, die Wahlen mittels Hetze, Desinformationen und Verschwörungstheorien zu verhindern, ist dieses Vorhaben gescheitert. Selbst islamistischer Terror, Banditentum, organisierte Gewalt gegen politische Gegner, Sicherheitskräfte und die Wahlkommission haben es nicht vermocht, die Wahl zu verhindern, so der Stand bei Redaktionsschluss.

Die dominanten Fraktionen der zahlenmäßig großen und obszön reichen Machtelite betrachten den Staat im Wesentlichen als Beute, die sich aus den reichen Erdöl- und Gasvorkommen speist, und wollen den Zustand, trotz teils heftig geführter interner Machtkämpfe, in seiner jetzigen Form erhalten. Auch die Masse der Bevölkerung, wenngleich von einem Großteil ihrer Herrschaftseliten verachtet, hält mangels überzeugender Alternativen an der derzeitigen demokratischen Struktur fest. Denn nach wie vor verfügt sie über eine erstaunliche Resilienz. Diese beruht auf dem tiefverwurzelten Glauben der Nigerianer an ein besseres Morgen. Das wiederum trägt dazu bei, den kaum regierbaren Staat samt seiner zahllosen Unzulänglichkeiten in seinen Grundzügen zu erhalten.

Mit dieser Wahl scheinen sich aber erstmals vage Möglichkeiten anzudeuten, etwas verändern zu können und die hochkorrupte Riege der »alten Männer« endgültig aufs Altenteil abzuschieben. Verkörpert wird diese durch die bis dato aussichtsreichsten Kandidaten: Bola Tinubu, ein Yoruba aus dem Südwesten und Vertreter der Regierungspartei APC, und Atiku Abubakar, ein Fulani aus dem Nordosten und Bewerber der großen Oppositionspartei PDP. Die überwiegend muslimischen Fulani stellen mit 30 Prozent die größte ethnische Gruppe, die mehrheitlich christlichen Yoruba und Igbo mit jeweils gut 15 Prozent die zweit- und drittgrößte Gruppe im Vielvölkerstaat Nigeria, in dem mehr als 500 verschiedene Sprachen gesprochen werden.

Inzwischen sind die großen politischen Parteien in Nigeria ethnisch und religiös durchmischt. Um Spannungen entgegenzuwirken, stellten sie in der Vergangenheit abwechselnd Präsidentschaftskandidaten aus dem überwiegend christlichen Süden und dem vorwiegend muslimischen Norden auf. Seit einigen Jahren wird dieses Prinzip jedoch nicht mehr vollständig beachtet: Tinubu stammt zwar aus dem Süden, ist aber ebenfalls Muslim wie der aus dem Norden stammende Atiku Abubakar. Allein mit Peter Obi, dem dritten aussichtsreichen Kandidaten, würde turnusmäßig ein Christ aus dem Süden folgen.

Tinubu und Abubakar gehören seit Jahrzehnten zur ersten Garde der Machteliten und der politischen Klasse und bestehen darauf, dass nur sie Anrecht auf das höchste Staatsamt hätten. Sollten beide scheitern, böten sich immerhin zaghafte Ansätze, zumindest vorläufig einen Schlussstrich unter acht verlorene und bittere Jahre zu ziehen, die geprägt waren durch eine katastrophale Sicherheitslage, Verschuldung als Wirtschaftsprogramm, desolate Infrastruktur, organisierten Ölraub, systemische Straflosigkeit, massive Jugendarbeitslosigkeit, weit verbreitete Armut. Die Liste ließe sich beliebig erweitern.

Sind unter den gegebenen Umständen Veränderungen möglich, und wenn ja, unter welchen Bedingungen und zu welchem Preis? Es ist der vermeintliche Spielverderber Peter Obi, Kandidat der bislang unbedeutenden Labour Party, der mit seinen 61 Jahren Reformen und Veränderungen verspricht. Wobei auch Obi kein Unbekannter ist, scheiterte er doch vor vier Jahren als Vizepräsidentschaftskandidat an der Seite seines jetzigen Gegners Abubakar nur knapp. Jahre zuvor war er immerhin zwei Mal Gouverneur des Bundesstaates Anambra im Igbo-Kernland. Seitdem zählt er zum politischen Establishment.

Wie überall in Afrika ist auch die Gesellschaft in Nigeria extrem jung, doch die Perspektiven für die junge Generation sind düster. Obis Wahlkampagne aber elektrisierte genau diese Generation, die sich in den sozialen Medien tummelt. Er mobilisierte Millionen junger Wahlberechtigter und ermunterte sie, sich registrieren zu lassen und termingerecht die Wählerausweise abzuholen. Trotzdem blieben mehrere Millionen Ausweise liegen, wobei unklar ist, welche Altersgruppen besonders betroffen sind. Der Ausgang wird stark von der Wahlbeteiligung abhängen, eine hohe käme Obi zugute, eine niedrige seinen Konkurrenten, meinen die Analysten. Obis Wahlkampfauftritte jedenfalls zeichneten das Bild eines Außenseiters auf dem direkten Weg ins Präsidialamt, zusätzlich befeuert von internationalen Leitmedien.

Doch die Hürden für einen Wahlsieg sind enorm hoch. Denn die Verfassung schiebt der regionalen Dominanz einzelner Ethnien im Vielvölkerstaat einen Riegel vor. Sie stellt dazu zwei Bedingungen: Der Sieger muss die Mehrheit der Stimmen gewinnen und zumindest in zwei Drittel aller 36 Bundesstaaten plus dem Bundesterritorium Abuja jeweils mindestens 25 Prozent auf sich zu vereinigen.

Der Hype um Peter Obi überdeckt all das sowie das austarierte, föderativ organisierte Machtgefüge Nigerias. Obi verfügt im Gegensatz zu Atiku und Tinubu nur über einen Bruchteil des notwendigen Apparates, um an den mehr als 170 000 Wahllokalen Menschen überzeugen oder überreden zu können. Auch stellt seine Partei keinen Gouverneur, der kraft seines Amtes das lokale Wahlgeschehen beeinflussen könnte. Seit Kurzem gibt es hinter den Kulissen dennoch Stimmen, die ein »totes« Rennen und damit eine Stichwahl vorhersagen. Unmöglich ist es nicht, aber wenig wahrscheinlich.

Wer auch immer gewinnt – einiges spricht für die alte Garde –, der Rentierstaat jedenfalls kann auch nach dieser Wahl wie bisher auf hohem Niveau »weiterwurschteln«, dank neuer Öl- und Gasfunde in Zentralnigeria.

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