Ryuichi Sakamoto geht mit neuem Album

Neue, schöne Musik von Ryuichi Sakamoto, der im Alter von 71 Jahren verstorben ist.

  • Benjamin Moldenhauer
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Erfindung von Ambient-Musik ist verbunden mit einem Heilungsprozess. Brian Eno wurde 1975 von einem Taxi angefahren, auf dem Weg vom Studio nach Haus. Im Krankenhausbett soll er Harfenmusik auf einem Plattenspieler gehört haben, aber zu leise. Brian Eno war zu müde und wegen der ganzen Schmerzmittel zu schlapp, um noch einmal aufzustehen und den Regler hochzudrehen. Die Harfenklänge vermischten sich mit den Geräuschen der Umgebung, draußen prasselte Regen gegen die Scheiben, und der Patient dämmerte weg. »Ich fing an, diese Platte zu hören, als ob ich noch nie zuvor Musik gehört hätte«, erinnerte sich Eno Jahre später. »Ich hörte nur hin und wieder die lautesten Teile der Musik, bekam ein kleines Gewirr von Noten, die über das Rauschen des Regens hinauskamen und dann wieder wegflogen.«

1978 veröffentlichte Eno dann das genrebildende Album »Ambient 1: Music for Airports«. Von Anfang an ist die Geschichte der Ambient-Musik also mit dem Motiv der Heilung verbunden. Man kann dieses Motiv auch als musikalische Kategorie in Anschlag bringen: Seichter Ambient klingt nach Wellness; Ambient, der subtiler und vor allem nicht gefällig klingt, ruft das Motiv der heilenden Musik aus. Musikalische Räume als auditive Krankenhausbetten.

Bei Ryuichi Sakamoto wurde 2014 Rachenkrebs diagnostiziert. Daran ist er nun, am 28. März, verstorben. Der 1952 geborene Komponist legte eine erzwungene dreijährige Pause ein. Bis dahin hatte Sakamoto durchgeschafft, als einer der vielseitigsten produktivsten japanischen Musiker. Seine Diskografie ist ein Meer: Der frühe Durchbruch in den späten Siebzigern mit dem Elektronik-Trio Yellow Magic Orchestra, das in Japan etwa denselben Status hat wie Kraftwerk in Deutschland. Eine lange Reihe Soundtracks – zum Beispiel Nagisa Ōshimas »Merry Christmas, Mr. Lawrence« (1983), in dem Sakamoto auch eine Hauptrolle spielte, oder zu Bernardo Bertoluccis »Der letzte Kaiser« (1987), von denen die bekanntesten genauso sorgfältig gearbeitet sind wie die zu den eher randständigen Filmen, zum Beispiel für eine Dokumentation über Jacques Derrida. Die zahlreichen Kollaborationen mit Drone-Musikern wie Christian Fennesz oder Alva Noto, die Clicks and Cuts beziehungsweise immersive Flächen sind mit Sakamotos Pianospiel verbunden.

Den Bruch, den der Krebs bedeutete, verarbeitete Sakamoto, wie man so sagt, in dem 2017 erschienenen Album »async«, das bereits klang wie Abschiedsmusik. Melancholisch war die Musik Ryuichi Sakamotos schon immer. Sein Klavierspiel schließt unverhohlen an Chopin und vor allem an Debussy an. Da macht sich keine Ausgelassenheit breit. Trotzdem hatte seine Musik bis dahin immer etwas kristallin-schönes. »Async« klang mit einem Mal anders, hermetischer und auch drückender, bei aller Leichtigkeit, die immer wieder durchschimmerte. Die Platte schien als eine Art Erinnerungsalbum konzipiert zu sein, das alle Genres und Stile aufrief, die Sakamoto bespielt und ausdifferenziert (oder auch gleich miterfunden) hat.

Der jüngst erschienene Nachfolger, »12«, hat hingegen nichts Retrospektives mehr, sondern klingt nach einer anderen Form von Abschied. Die Tracks, die auch deswegen wie musikalische Tagebucheinträge erscheinen, weil sie Datierungen zum Titel haben, wirken skizzenhaft. Notizen über die eigene Verfasstheit, erstellt am Klavier und per Laptop mit immersiven, aber nie aufdringlichen Flächen unterfüttert. Zu Beginn und während einiger Stücke hört man Sakamoto sich hinsetzen oder atmen. Der Raum klingt also wieder mit, Ambient im klassischen Sinne. Aber »Heilung« ist hier verbunden mit einem letalen Befund, also unmöglich. Zur Rachenkrebs- kam eine Darmkrebsdiagnose hinzu, die inzwischen im vierten Stadium angekommen ist.

Das Album »12« ist aufs Wesentliche reduziert und klingt auch so, als sollte alles aufs Wesentliche reduziert werden. Zeitgleich erscheint ein Tribute-Sampler für Ryuichi Sakamoto. Zu hören sind langjährige musikalische Partner wie David Sylvian, dem früheren Sänger von Japan, der über das im Original mit Alva Noto und dem Ensemble Modern eingespielte »Grains« seinen unvergleichlichen Gesang legt. Aber es finden sich auch überraschende Kollaborationen, wie etwa den Beitrag des Bassisten Thundercat, der das Titelstück von Sakamotos Debütalbum »Thousand Knives« von einem Elektropoptrack zu einem Stück elektrifiziertem Fusionjazz werden lässt. Oder der japanische Noise-Musiker Otomo Yoshihide, der »With Snow and Moonlight« mit für seine Verhältnisse dezenten Störgeräuschen und -frequenzen neu modelliert.

Wie Sakamotos Musik seit 2014 klingen würde, wenn man um die Krebsdiagnose nicht wüsste, lässt sich naturgemäß nicht sagen. In Verbindung mit der Diagnose und der alten Idee von »Ambient als Heilung« jedenfalls ist diese Musik unheimlich berührend. Heilung ist nun keine Option mehr, weil es hier nicht um Liebeskummer oder Weltschmerz geht oder um ein Taxi, das einem über den Fuß gefahren ist, sondern um Krebs. Aber der schwebende Charakter, den Sakamoto sich in seiner Musik erhalten hat, transportiert nun etwas sehr Seltsames, Schönes: Musik, die klingt, als wolle sie denen, die sie hören, eine Entkörperlichung ermöglichen, ohne sie dabei zu betäuben.

Ryuichi Sakamoto: »12« (Sony Music)
V.A.: »A Tribute to Ryuichi Sakamoto – To the Moon and Back« (Masterworks/Sony Music)

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