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Antarktisches Meereis erreicht Rekordtief
Seit 2016 zieht sich das Meereis vor der Antarktis in den Sommermonaten immer weiter zurück. Die Gründe dafür sind noch unklar.
125 Jahre ist es her, dass das belgische Forschungsschiff »Belgica« zu Beginn des antarktischen Winters, am 3. März 1898, südlich des 71. Breitengrads einfror. Ein ganzes Jahr trieben das Schiff und seine Besatzung unfreiwillig durch das Packeis der Bellinghausensee. Heute ist das Szenario ein anderes: Als das deutsche Forschungsschiff »Polarstern« denselben Ort im Februar dieses Jahres durchquerte, fanden die Wissenschaftler*innen weite Teile des Gewässers vollkommen eisfrei vor. Das betrifft vor allem den Kontinentalschelf, den Teil des Meeres oberhalb des Festlandsockels, mit einer Fläche so groß wie Deutschland.
Überhaupt ist die Meereisbedeckung diesen Februar in der Antarktis die geringste seit Beginn der Satellitenaufzeichnungen vor 44 Jahren. Nach Zahlen des Meereisportals, eines Gemeinschaftsprojekts des Alfred-Wegener-Instituts Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) und der Universität Bremen, lag sie am 21. Februar mit 2,01 Millionen Quadratkilometern noch ein Zehntel unter dem bisherigen Rekordtief im Vorjahr. Seit 2016 hat sich die Ausdehnung des Meereises im antarktischen Sommer um rund ein Drittel verringert. »Diese rasante Abnahme ist sehr erstaunlich, weil sich die Eisbedeckung in den 35 Jahren davor kaum verändert hatte«, kommentiert der Eisforscher am AWI, Christian Haas, die Beobachtung. Dabei sei noch unklar, ob das sommerliche Meereis dabei sei, ganz zu verschwinden oder ob sich bei einer geringeren Ausdehnung ein neues stabiles Gleichgewicht einpendele.
Das antarktische Meereis unterliegt großen saisonalen Schwankungen. In den Monaten September und Oktober erreicht es seine maximale Dicke und Ausbreitung mit einer Gesamtfläche von rund 18 Millionen Quadratkilometern. Jeweils im Februar verzeichnet es sein Minimum. Mancherorts verschwindet es im Sommer sogar ganz, wenn auch nicht auf so großen Flächen wie in diesem Jahr. Ungeachtet des aktuellen sommerlichen Trends nimmt die Meereisbedeckung im Winter immer noch etwas zu.
Große regionale Unterschiede gibt es insbesondere zwischen West- und Ostantarktis. »An der Ostantarktis bleibt sowieso sehr wenig Eis zurück im Sommer«, berichtet Haas. Ihre Küsten liegen nördlicher und damit näher am Zirkumpolarstrom, der wärmere Wassermassen mit sich führt. »Das Eis wird wegen der Strömung sehr schnell von der Küste weggetrieben, sodass es auch im Winter nicht richtig dick werden kann«, so der Geophysiker. Am meisten Meereis überlebt dagegen im Sommer im Weddellmeer, dem südlichsten Teil des Atlantiks, östlich der Antarktischen Halbinsel. Ein Wirbel im Uhrzeigersinn sorgt dort dafür, dass es an die Küste gedrückt wird und damit dicker wird als anderswo. So kommt dort auch mehrjähriges Meereis vor.
Offene Fragen
Warum es vor sechs Jahren zu einem so starken Einbruch des sommerlichen Meereisvolumens kam und es seitdem noch stärker geschrumpft ist, können die Wissenschaftler*innen des AWI heute noch nicht beantworten. Als eine Erklärung für den dieses Jahr verzeichneten Niedrigrekord führen sie die hohen Lufttemperaturen westlich und östlich der antarktischen Halbinsel an. Diese lagen mit 1,5 Grad im Monatsmittel über dem langjährigen Durchschnitt. Bereits seit einigen Jahren verzeichnet die sogenannte Southern Annular Mode (SAM) zudem eine starke positive Phase. Das bedeutet, die Differenz zwischen dem Luftdruck über der Antarktis und den mittleren Breiten ist ungewöhnlich groß. Ein hoher SAM-Index verstärkt die Westwinde um die Antarktis und führt zu einem vermehrten Aufstieg zirkumpolaren Tiefenwassers auf den Festlandsockel. Da dieses wärmer sei als das dortige Oberflächenwasser, trage es zur Schmelze des Meereises aber auch der Schelfeise bei, berichtet das AWI.
Doch dabei handele es sich nur um zwei mögliche Erklärungen unter vielen, sagt Haas: »Lufttemperatur und Luftdruck sind die Parameter, die sich über Wetterstationen und Satelliten am besten messen lassen.« Die Zunahme der Westwinde komme jedoch als alleinige Ursache nicht in Frage, denn diese befänden sich speziell im Sommer weit von den Gebieten entfernt, wo sich noch Meereis befinde. Überhaupt sei noch nicht richtig verstanden, wie sie sich genau auswirkten.
Sowohl bei der Antarktis als auch beim Südpolarmeer handelt es sich um ein riesiges Gebiet mit unterschiedlichsten Einflüssen. So lassen sich aus Sicht des Wissenschaftlers mit dem warmen Wetter letztes Jahr an der Antarktischen Halbinsel bestenfalls die dortigen Veränderungen in der Meereisbedeckung erklären, nicht aber die in der Ostantarktis. Regionale Winde, die das Meereis transportieren und damit bestimmen, wo es sich aufhält, könnten ebenso eine Rolle spielen wie die Bewölkung. Diese beeinflusst, wie stark im Sommer die Sonneneinstrahlung auf Meereis und Ozean ist und damit auch, wie viel Wärme dieser speichert.
Der starke Rückgang der eisbedeckten Meeresfläche wirft aber auch sonst verschiedene Fragen auf. »Gefriert das Wasser im Winter weniger, und ist das Meereis deshalb am Anfang des Sommers dünner, oder schmilzt es im Sommer schneller als früher? Das zu wissen ist wichtig, um die Ursachen verstehen zu können«, urteilt Haas. Dafür fehle es aber noch an guten Messungen dazu, wie sich die Eisdicke über das Jahr und von einem zum anderen verändere, ebenso wie an besseren Beobachtungen und Modellen.
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